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■ NormalzeitGünter Schinske

Er gehörte, zusammen mit Max, Uschi und Gabi, zum harten Kern der Pritzwalker Qualifizierungsmaßnahme für langzeitarbeitslose Landarbeiter. Man versprach ihnen anschließend ABM- Stellen, als daraus nichts wurde, zogen sie sich in ihre Wohnungen zurück, tranken und verfolgten die Welt quasi nur noch über dürftige Fernseh-Features und billige US-Serien. Uschi bekam ein Hüftleiden, ihr Freund kam ins Gefängnis, dann auch ihr großer Sohn, dann sogar ihr neuer Freund, und schließlich nahm man ihr den kleinen Sohn weg. Max bewarb sich – vergeblich – bei einigen niedersächsischen Molkereien und mußte dann wegen eines Herzleidens ins Krankenhaus. Dann wurde er mit 1.200 Mark Frührentner. Günter und Gabi wohnten in einem Einzimmerhaus auf dem Dorf, wo – am anderen Ende – auch Gabis früherer Ehemann mit ihren vier Kindern lebte. Jedesmal wenn er einen Alkoholentzug abgebrochen hatte, ließ er seinen Frust an seinen Töchtern, aber auch an Gabi aus. Regelmäßig trafen sich die 17 Pritzwalker Neonazis bei ihm. Im Suff überredete er sie, Gabis und Günters Vorgarten zu verwüsten. Diese trauten sich manchmal im Dunkeln nicht mehr auf die Straße. Auch die reißerischen Sat.1-Reportagen machten sie paranoid. Aber Günter verlor seine gute Laune und seinen Witz nicht. Er war ein Pferdenarr, jedes Jahr fuhr er nach Neustadt auf den Pferdemarkt. Und Pferderennen im Fernsehen – das war wie Reichsparteitag für ihn. Einmal holte er sich ein Pony, kam aber nicht klar mit dem wilden Hengst. Gabi machte derweil ihren Führerschein und kaufte sich ein altes Auto. Und ein Telefon schafften sie sich auch noch an.

Ich dachte bereits, sie würden es langsam schaffen – und es sich mit zusammen 2.000 Mark im Monat (bei 250 Mark Miete) gemütlich machen. Aber dann aß Günter plötzlich nichts mehr, und bald konnte er auch keine Flüssigkeit mehr bei sich behalten – zum Arzt wollte er auch nicht. 14 Tage später war er tot: auf dem Weg zur Toilette zusammengebrochen. Seine Mutter, die im selben Dorf wohnte, und Gabi nahmen während der Vorbereitung seiner Beerdigung über 10 Kilo ab. Die genaue Todesursache wußten sie nicht und wollten sie auch nicht wissen: „Er hat einfach keinen Sinn mehr im Leben gesehen – keine Hoffnung!“ Und das war wahrscheinlich die Wahrheit.

Am letzten Samstag fuhren wir alle auf den Dorffriedhof, um ihm das letzte Geleit zu geben, wie man so sagt. Cirka 60 Leute hatten sich mit Blumen um die kleine Kapelle versammelt – viele weinten. Auf Gabis Wunsch spielte eine gemietete Beerdigungsrednerin „Ave Maria“ und ließ dann in ihrer Trauerrede noch einmal Günters Leben Revue passieren – ein bißchen zu kritisch für meinen Geschmack, aber besser als verlogen: Ausführlich kam sie dabei auf Arbeitslosigkeit, Alkohol, Fernsehkucken und seine Pferdeleidenschaft zu sprechen. Der Friedhof lag inmitten eines blühenden Rapsfeldes. Von irgendwoher blökten Schafe. Flieder, Schneeball, Rotdorn und Kastanie blühten. Gelegentlich überflog ein Storch oder ein Bussard die Kapelle.

Später erzählte mir sein Schwager, daß die LPG ihn 1987 als Fahrer beschäftigte, ohne daß er einen Führerschein besaß. Es kam deswegen zu einem Gerichtsverfahren gegen Günter, das man als Schauprozeß aufzog – und deswegen live im Radio übertrug. Aufgrund Günters witziger Antworten sei das Ganze aber nach hinten losgegangen: Günter war anschließend ein Held in der Region. So sagte er z.B. auf die Frage das Richters, ob er ein Konto besäße: „Ja, ein Fallskonto!“ – „Was ist das denn?“ – „Falls was drauf ist!“ Zuletzt hatte er übrigens am liebsten über den Euro geschimpft. Und seine letzten Worte zu mir am Telefon lauteten: „Der Sozialismus hat uns schon ruiniert, aber der Kapitalismus wird uns endgültig fertigmachen!“ Es war trotz alledem eine schöne Beerdigung. Nur mit Mühe konnte ich meine Tränen zurückhalten. Schwalben schossen durch die Luft, und Lerchen jubilierten über den Feldern. Mit der alten Goetheschen Weisheit „Es gibt nichts Schöneres auf Erden, als morgens eine Lerche zu hören und abends eine zu essen“, gewann ich beim Leichenschmaus im Haus seiner Mutter langsam meine Fassung wieder. Es war meine erste Beerdigung im Leben. Helmut Höge

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