■ Normalzeit: Von der Idee zur Bewegung
In den achtziger Jahren bildeten die Autoren Klaus Nothnagel und Dr. Seltsam das Rückgrat der taz-Theaterkritik. Letzterer warf im Zuge des „Gaskammervoll“-Konflikts 1989 das Handtuch, zuletzt bekam er wegen eines Beitrags in einer autonomen taz-Berlin-Ausgabe sogar noch „Schreibverbot“. Den taz-Ausgeschiedenen wies man dann als „Bismarc Media“ einen „Raum“ im Künstlerhotel Bethanien zu, wo Droste und Dr. Seltsam die Idee einer mündlich vorgetragenen Zeitung reintrugen.
Wir anderen konnten damit wenig anfangen. Erst sehr viel später stießen wir auf die große Tradition der „gesprochenen Zeitung“ im revolutionären Rußland und in Polen. Grad neulich las in Mitte ein alter polnischer Dichter, der noch in den späten Sechzigern eine solche „Zeitung“ auf einer Krakauer Bühne „herausgab“ – aus Papiermangel. (Übrigens stammt auch die taz-Idee „Säzzer-Bemerkungen“ aus der Arbeiterbewegung: In der Zeitung der ostfriesischen SPD gab es sie schon 1889.)
Seine mündliche Zeitung führte Dr. Seltsam 1990 zuerst im Osten ein – in einem Anarchocafé in Mitte, unterstützt vom Kulturdezernenten dortselbst. Auch hier kam es zu Auftrittsverboten, er ließ sich aber nichts anmerken. Wiglaf Droste fand derweil Aufnahme in der Volksbühne – mit seinem „Benno-Ohnesorg-Theater“. Inzwischen ist er sogar in die Schulbücher gelangt, nachdem ihn die junge DDR-Germanistik des Westens, seit der Wiedervereinigung ohne Sujet, in Rheinsberg zum Tucholsky- Nachfolger kürte.
Drostes Bühnenshow hat ein Handicap: Gäste duldet er nur als Watschenmänner. Das hielt selbst der masochistische Michael Stein nicht aus. Er schloß sich dem raumgreifenden Dr.-Seltsam-Aktiv an. Dies bespielt mittlerweile halb Mitte: Die „Reformbühne“ im Schoko-Laden, Ackerstraße; den „Frühschoppen“ in der Kalkscheune; das „Mittwochsfazit“ im Schlot, Kastanienallee; den „Trash-Talk“ im Zosch, Tucholskystraße; die „Surfpoeten“ im Bergwerk, Bergstraße; die „Bukowski-Gesellschaft“ im Bukowski, Christstraße; die „Otto-Groß-Gesellschaft“ im Internet usw.
Sie haben teilweise Querverbindungen zum „Sklavenmarkt“ im Siemeck und damit zur Zeitschrift Sklaven bzw. Sklavenaufstand“. Ihr eigenes Organ heißt Salbader. Die Veteranen der Seltsam-Truppe, Duschke und Berg, sind zudem Kolumnisten beim Scheinschlag. Selbst die hartgesottensten Bühnenzeitungs-Vorträger werden also noch vom rückständigen Zeitungs-Zuträgerdienst versucht, d.h., es zieht sie mit Macht zurück ins Gedruckte.
Dabei fügt das bühnengesprochene Wort dem Text aufs menschlichste ein Mehr hinzu: „Öffnet ihn“, wie wir Theaterkritiker sagen. Die Zeitungsmacher haben dafür nur das „Layout“. Gerade hat sich die Zeit damit wieder „relaunched“. Das ist der unmenschliche Weg (die Kapitalstrategie): In der Zeit wurde dafür ein idiotisch-juveniler US-Kubaner angeheuert, monatelang schlichen die Altredakteure geknickt an ihre Arbeitsplätze, bis heute haben sie sich von dieser Mobbing-Niederlage nicht erholt. Und werden es auch nicht: dafür sind ihre Gehälter zu hoch.
Übrigens berichtet die Presse nur über Drostes Bühne, nie über all die anderen! Mich stört – auf allen – der Unterhaltungswert: also das Witzige, Ironische, Zynische etc. Das ist nur noch was für Studenten – im vierten Semester Schlagfertigkeit. Dies ist jedoch jetzt die Stunde der „Men in Sportswear“, die sich auf eigene Faust durchschlagen – nahezu ohne Worte. Und die wurden ihnen von den Kriegsgewinnlern auch noch entwendet.
Nichtsdestotrotz veröffentlichte Dr.Seltsam neulich einen prima Text über den „Geldkomplex“ der Gräfin von Reventlow, der jetzt verfilmt werden soll. Man sieht, auch Dr. Seltsam & Co. sind noch Medienhengste. Jedoch im Gegensatz zu den meisten tazlern, für die die Zeitung ein Abkühlrohr („learning by doing“) zugunsten anderer Medien ist, war sie für Dr. Seltsam ein Durchlauferhitzer, der jetzt mal eben mit einem Auftritt die „Jacob-van-Hoddis-Gesellschaft“ eines Großinvestors zum Platzen bringt. Helmut Höge
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