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■ NormalzeitAussterbende Berufe Von Helmut Höge

Dazu gehört auch der Berufsberliner. Der Wochenpost-Redakteur Kopka hat diesbezüglich bereits vor Jahren unseren Alarmismus sensibilisiert, indem er akribisch die Topnachrichten der Springer-Journaille abschrieb: „2 Berlinerinnen von Hai zerrissen!“, „Berliner sprang von Golden Gate Bridge – tot!“, „Berlinerin kam in Husum unter die Räder“ usw. – Tag für Tag geht das so. Beim Erdbeben in der Türkei waren z. B. laut B.Z. „6 Berliner“ unter den Toten. Wie überhaupt die Sommer- und Reisesaison am gefährlichsten für diese Spezies ist. Erst schwärmen sie alle aus, und dann haut es sie irgendwo fern der Heimat reihenweise vom Sockel. Hier wird einer von einem indischen Elefanten zertrampelt, dort fallen zwei in Miami unter die Räuber, und da kippt ein ganzer Bus voller Berliner eine ungeschützte Böschung herunter. Es ist grauenhaft.

Selbst wenn sie zu Hause bleiben, sind sie nicht sicher: In Zeuthen wird eine Gruppe junger Berliner als Buletten beschimpft und zusammengeschlagen, in Bad Saarow ein Berliner von einem Golfball niedergestreckt, und in Finow fällt zwei Berlinern fast ein ganzes Schiffshebewerk auf die Füße. Im Prenzlauer Berg wurde neulich der Berliner Alfred S. (46) sogar vor seiner Haustür von einem betrunkenen Touristen „abgestochen“. Angeblich aus Versehen. Die Berliner haben wirklich Pech. Was die zwei Weltkriege nicht geschafft haben, das schafft nun dieser entsetzliche, nicht enden wollende Friede: Sie sterben einer nach dem anderen weg. Nur die Springer-Presse verschließt vor dieser traurigen Tatsache die Augen nicht. Im Gegenteil, in diesem besonders katastrophalen Sommer versuchte sie sogar gegenzusteuern und startete eine großräumig angelegte Untersuchung über den „Sex der Berliner“. Heraus kam wenig Ermutigendes: Während die eine Hälfte lieber oben drauf sitzt, liegt die andere Hälfte lieber unten drunter. Nun könnte man einfach sagen: Wo ist das Problem? Wechselt euch doch einfach ab! Aber genauso gut könnte man auch sagen: Fahrt doch einfach nicht nach Miami, dann werdet ihr auch nicht abgemurkst!

So einfach ist es aber nicht. Nicht für den Berliner, der ja sogar zu Hause noch vom Pech verfolgt wird. Grad neulich wurde der Neuköllner Kapielski in einer Kreuzberger Kneipe fast tödlich bedroht. Nein, auch wenn der Berliner unglücklich und artenbedroht ist, auf den Kopf gefallen ist er nicht. Wie eine andere Sexuntersuchung in Berlin ergab, weichen die Paare hier nicht immer, aber immer öfter auf Clubs aus. Das Pärchen-Clubbing dient nur vordergründig dem enthemmten Partnertausch oder dem völlig regellosen Rudelbumsen. In Wirklichkeit geht es einzig darum, lieb gewordene Gewohnheiten beizubehalten. Oder, wie Ernst und Ulla es ausdrücken, die in den vier „Zwielicht“-Zonen der Stadt immer wieder gern gesehene Gäste sind: „Allet verändert sich dermaßen rapide, da ist unser Pärchen-Club noch so ne richtige Oase der Ruhe – inmitten des janzen Jetümmels. Am Potsdamer Platz und so.“ Ihre Tochter Jana ergänzt: „Hier am Anton-Saefkow-Platz geht es jetze auch schon los!“ Experten warnen bereits vor der Aids-Gefahr, die mit den Pärchen-Clubs wieder zunehmen könnte.

Schon gibt es ein erstes Bestattungsunternehmen, das auf die Beerdigung von an Aids gestorbenen Berlinern quasi spezialisiert ist. Für die vielen unvorsichtigen Freizeitkapitäne auf den Berliner Gewässern gibt es schon lange Spezialisten für Seebestattungen. Auch am Arbeitsplatz ist der Berliner zunehmend gefährdet: „Es geht doch jetzt alles den Bach runter“, unkte unlängst schon der Personalrat der Wasserwerke auf einer SPD-Protestversammlung von Mitarbeitern der städtischen Wirtschaftsbetriebe, die sich gegen ihre „Privatisierung und Verschlankung“ richtete. Er wünschte sich nur noch eines: „Dass es alles wieder so wird wie vor der Wende, da war es gemütlicher.“ Heute – das sei ja kaum noch auszuhalten. Er wisse von Dutzenden Kollegen, die den Stress nicht mehr aushielten: „Die sind einfach umgefallen.“ Andere, die durchzuhalten versuchen, benutzen dafür nur noch U-Bahnen, an denen ausdrücklich draußen dransteht: „Keine Alkoholkontrollen“.

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