Norddeutschland live : ...oder wo Rheinländer umerzogen werden
Norddeutsche Lebensart? Die hat man als Süd- bzw. Rheinländer schon immer für was ganz Besonderes gehalten. Urlaubend genoss man alljährlich Wind, Wasser, Bläue, Sand – kurz: Ingredients, die klischeehafter nicht sein konnten. Und doch auch irgendwie stimmten und einem, wieder in die stickige Rheinebene verbannt, novembers schwärmen ließen von insularen Nordwinden und einem deftigen Tee im heimeligen Reetdach-Domizil. Und ein bisschen was anderes war es eben schon, ob man mit den Booten der Köln-Düsseldorfer den Rhein herabschipperte oder sich auf der Kieler Woche einen zünftigen Viermaster besah. Ein Seebär war man nämlich geworden in drei Urlaubswochen, nur noch Blau und Weiß wurde fortan getragen, jawohl!
Jahrzehnt um Jahrzehnt ging das so – was konnte da näher liegen, als irgendwann endlich gen Norden umzuziehen, karnevaleske und dialektale Unbill hinter sich zu lassen, um sich darselbst zu den Küstenbewohnern zu gesellen? Endlosen Weitblick auf holsteinische Ebenen wünschte man dort vorzufinden, unbekannte Flora und Fauna zuhauf – und jede Menge täglich erneuerbaren Fernweh-Gefühls beim Anblick von Schilf und Gewässer. Was tat es da schon, dass die erste Hamburger Wohnung schimmlig, die ersten Sommer sämtlich verregnet waren? Und was schadete es, dass die Langzeit-Recherche doch ein gewisses Temperamentsgefälle zwischen Hanseaten und Rheinländern offenbarte, das zu verkraften dem Zugereisten schwerer fiel als gedacht? Überraschend diszipliniert beugt sich nämlich die hiesige Bevölkerung dem Diktat etwa gemächlicher Bahn- und Postbeamter, die nach Lust und Laune ihre Schalter schließen, um sich eingehender Privatlektüre zu widmen, selbstverständlich Aug’ in Aug’ mit dem wartenden Pulk! Nun ist es nicht so, dass der Rheinländer per se zur Gewalttätigkeit neigte – allein in solchen Momenten erinnert er sich dann doch mit leiser Wehmut der fernen Heimat, in der solch schweigendes Dulden undenkbar wäre: Lautstark und zügig hätte sich die wartende Meute dort zur Phalanx verbündet, hätte Zeter und Mordio geschrien und den Beamten ohne jede Gnade gezwungen, den Schalter offen zu lassen, bis die Mittagspausen-Schlange beseitigt wäre.
Und der Hamburger? Begnügt sich damit, seinen zum Nörgeln anhebenden Wart-Genossen ob seiner Ungeduld zu schelten und des groben Unverständnisses für die Belange darbender Postbeamter zu zeihen. Ist das nun die Moral der neuen Zeit – der Beamte ist König – oder hat das egozentrisch-schlichte Rheinländer-Gemüt da irgendetwas falsch verstanden? Petra Schellen