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■ Noch nie war die IRA so kompromißbereit wie heuteJede Idee hat ihre Zeit

Es ist ein wahres Meisterwerk der Semantik, was der britische Premier John Major und sein irischer Amtskollege Albert Reynolds entworfen haben. Aus den Formulierungen kann sich jeder etwas Passendes heraussuchen. Aber ist dies auch ein Rezept für Frieden in Nordirland? Außer der Tatsache, daß sich beide Regierungen zu einer gemeinsamen Erklärung durchringen konnten, enthält das Dokument nichts Neues. Majors Angebot, ein vereintes Irland zu akzeptieren, wenn dies der Wunsch der Mehrheit in Nordirland sein sollte, hatte schon sein Vorgänger Edward Heath 1972 unterbreitet. Und die irische Regierung betont seit dem anglo-irischen Abkommen von 1985, daß ohne Zustimmung der nordirischen Protestanten nichts geht.

Was ist also diesmal anders? Es sind die Rahmenbedingungen. Noch nie war die IRA im vergangenen Vierteljahrhundert offenbar so kompromißbereit wie jetzt. Der „anglo-irischen Friedensinitiative“ liegt allerdings die Annahme zugrunde, daß die protestantisch-loyalistische Gewalt lediglich eine Antwort auf die Aktionen der IRA ist. Wenn also die IRA die Waffen niederlege, so glaubt man, gebe es unweigerlich Frieden. Diese Denkweise ist schon im Ansatz falsch und ignoriert die politischen Mechanismen in Nordirland: Was für die IRA akzeptabel ist, lehnen die Loyalisten schon aus diesem Grunde ab – und umgekehrt. Als die IRA 1975 einen Waffenstillstand verkündete, löste das eine Kette von Mordanschlägen der Loyalisten aus, weil sie argwöhnten, daß die IRA für diesen Waffenstillstand Gegenleistungen erhalten würde. So beobachtet auch diesmal jeder zunächst die Reaktion der anderen Seite. Doch selbst wenn man davon ausgeht, daß die Rechnung von Major und Reynolds aufgehen könnte – was ist für die IRA überhaupt drin? Das Versprechen, daß Sinn Féin nach dreimonatiger Waffenruhe an den „Vorgesprächen über Verhandlungen“ teilnehmen könnte, ist dürftig angesichts der jüngsten Enthüllungen, wonach die britische Regierung ohnehin schon seit Februar mit Sinn Féin verhandelt hat. Was gäbe es außerdem zu verhandeln, wenn IRA und Sinn Féin durch ihre Zustimmung zu der anglo-irischen Erklärung den Status quo von vornherein anerkennen würden?

Major und Reynolds setzen offenbar auf die Kriegsmüdigkeit der nordirischen Ghettobevölkerung. Sie hoffen nun, daß der unter dem Konflikt am meisten leidende Bevölkerungsteil Druck auf die paramilitärischen Organisationen ausübt. In den nächsten Tagen wird sich entscheiden, ob Major und Reynolds erneut die Chance auf Frieden in Nordirland verspielt haben. Ralf Sotscheck, Dublin

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