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Archiv-Artikel

Noch mehr Vergeblichkeit

„Letzter Sommertag“ versammelt einige von Ian McEwans schönsten Erzählungen

Viele Kritiker von Ian McEwans letztem Roman „Saturday“ waren sich einig: ein großer Wurf. Bestaunt wurde, wie geschickt der britische Autor aktuelles politisches Geschehen in Literatur zu übersetzen weiß. Seine Hauptfigur, der in London lebende Hirnchirurg Henry Perowne, diskutierte mit seiner Familie über den Irakkrieg und die möglichen Folgen. Dabei tauchten alle nur denkbaren Argumente für und gegen den Krieg auf, fast so, wie sie von McEwan selbst zuvor in Feuilletonartikeln platziert worden waren. Kurz: Einig war man sich aber auch, dass „Saturday“ Schwächen habe – zu gradlinig, zu konstruiert, zu wenig innovativ. Literarisch bleibe der Roman hinter McEwans bisherigem Werk zurück.

Wer will, kann diese Kritik jetzt überprüfen, ohne ins Antiquariat zu gehen. Mit „Letzter Sommertag“ ist jetzt ein Erzählungsband erschienen, der einige von McEwans schönsten Storys versammelt. Sie alle stammen aus den Jahren 1980 und 1982 und waren bisher nur in den Bänden „Zwischen den Laken“ und „Erste Liebe, letzte Riten“ zu finden. In der Tat offenbart sich hier ein anderer McEwan. Es ist einer, dem es der triste Mikrokosmos des Alltagslebens mit all seinen spinnerten Hoffnungen sowie den dazugehörenden Enttäuschungen angetan hat. Manchmal ist es auch umgekehrt und aus der fast schon lieb gewonnenen Verzweiflung erwächst ungeahntes Glück.

Seine Geschichten verbindet, dass sie persönliche Umwälzungen schildern, die formal mit dem Wechsel vom Spätsommer in den Herbst einhergehen und dass die meisten von ihnen in einem einzigen Satz kulminieren, der jedoch noch lange nicht das Ende der Erzählung bildet. In „Psychopolis“, wo das enttäuschte Lebensgefühl eines Engländers in Los Angeles entfaltet wird, heißt es zwischen Fesselspielen und einem Flötenkonzert plötzlich: „Auf einem Rasen hob ein kleines Mädchen ein noch kleineres Mädchen hoch und taumelte mit ihm einige Schritte vorwärts. Noch mehr Vergeblichkeit.“

In „Erste Liebe, letzte Riten“ wartet ein Junge vor dem Fabriktor auf seine Freundin, die seit kurzem einen Job hat und in einer rosa Arbeitsuniform Obst und Gemüse in Dosen füllen muss: „Ich dachte, wenn ich sie nicht aus diesem raschelnden Strom aus rosa Nylon ziehen konnte, war sie verloren, waren wir beide verloren, und unsere Zeit war wertlos geworden.“

McEwans Erzählungen sind voller Unmittelbarkeit, Kälte und Härte. Es finden sich zahlreiche Brüche und Sprünge, doch bleiben die Storys auf eine angenehme Art hermetisch. Die Kälte ist in seinen Romanen einer gelassenen Erzählweise gewichen, Härte und Brüche aber sind geblieben – nicht mehr so beherrschend wie einst, dafür aber pointierter. Was den Schriftsteller von früher mit dem von heute verbindet, ist seine große Kunstfertigkeit beim Erschaffen von Figuren und ihrem Wirken im Alltag, egal ob sie nun Henry Perowne heißen oder wie in den meisten Erzählungen keinen Namen haben.

Außerdem hat McEwan den Alltag seiner Protagonisten mittlerweile philosophisch und politisch so grundiert, dass mehr Tiefe, Breite und Differenziertheit vorhanden sind. Man kann das als Abkehr von Prinzipien begreifen, auf „Letzter Sommertag“ verweisen und „Früher war alles besser!“ rufen. Man kann auch hier wieder „zu gradlinig, zu konstruiert, zu wenig innovativ“ ächzen. Ian McEwan scheint es niemandem recht machen zu können: früher nicht, heute nicht. Auch das ist seine Stärke.

MAIK SÖHLER

Ian McEwan: „Letzter Sommertag“. Stories. Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Harry Rowohlt und Michael Walter. Diogenes, Zürich 2005, 336 Seiten, 13,90 Euro