: Noch mehr Fremdländer
Das neue Polen ist jugendlich und voller Aufbruch: Gernot Wolframs Debütroman „Samuels Reise“
Samuels Lektüre könnte sich nicht deutlicher von der seines namenlosen Reisebegleiters unterscheiden: Während der Junge am liebsten die Astronautengeschichten des alten polnischen Schriftstellers verschlingt, in dem man unschwer Stanislaw Lem erkennen kann, hat sein Begleiter eine Vorliebe für das 18. Jahrhundert in England, insbesondere für James Boswell. Und weil er Übersetzer ist, bereitet der Reisebegleiter auch gleich eine neue Übersetzung von Boswells Tagebuch ins Deutsche vor.
Der Schuljunge und der Übersetzer, Sciencefiction hier, Zeitreisen in die Vergangenheit dort: Dass Samuel und sein Begleiter ein ungleiches Paar sind, das ist beiden schon klar, ehe sie ihre Reise nach Polen überhaupt antreten. Dennoch lassen sie sich auf die Fahrt ein: Samuel ist der Sohn der Freundin des Übersetzers; deren Vater hat die Polenreise für seinen Enkel geplant. Er soll in Krakau den weltberühmten Schriftsteller treffen, dessen Bücher er so liebt, und der Übersetzer soll ihn begleiten.
„Samuels Reise“ heißt der Debütroman von Gernot Wolfram, aber eigentlich wird weniger über Samuels Reise erzählt als über die seines namenlosen Begleiters. 2003 hat der 30-jährige Autor einen Erzählband namens „Der Fremdländer“ veröffentlicht – und nicht nur die Figur aus der Titelgeschichte war damals ein Fremdländer, auch diejenigen aus den anderen Geschichten waren es. Um alltägliche Verunsicherungen ging es, um Missverständnisse, darum, dass kaum jemand in die Umgebung passt, in der er sich befindet. Keiner dieser Fremdländer war aber je irgendwo so fremd, wie es jetzt der Übersetzer in Polen ist. Er hat niemals fortgewollt aus seinem wohl geordneten Berliner Leben, und wenn er auch den Abenteuergeist und die Reiselust Boswells bewundert, hat er dergleichen doch selbst nie verspürt: „Ich brauche eine gewisse Ruhe und Gleichmäßigkeit in meinem Leben“. Beides geht ihm gründlich verloren.
Die Reise führt in ein Nachwendepolen, das vor allem durch die Abwesenheit von Ruhe und Gleichmäßigkeit gekennzeichnet ist. Der Kontakt zu dem berühmten Schriftsteller soll über einen Jugendfreund von Samuels Großvater hergestellt werden, der mittlerweile in Krakau eine Agentur für Doppelgänger betreibt. Bei ihm kann man Papst-Doubles für Volksfeste mieten oder Bill Clintons Doppelgänger für private Feiern. Der Reiz, den dieses Spiel mit Verwechslungen und Ähnlichkeiten entfaltet, ist typisch für das Land, in dem es sich abspielt: Polen ist in Wolframs Roman charakterisiert durch Jugend, Unberechenbarkeit, Identitätssuche, wobei für Letztere symptomatisch ist, dass der Papst eine der gefragtesten Figuren der Agentur ist.
Polen nach der Wende balanciert bei Wolfram immer zwischen alten Werten und dem neuen Wunsch nach Show. Dass der Inhaber der Doppelgänger-Agentur selbst Samuels berühmtem Schriftsteller zum Verwechseln ähnlich sieht, wird schließlich zum Anlass dafür, dass Samuel und sein Begleiter bald nicht mehr gemeinsam reisen, sondern jeder für sich allein. Über Samuels Reise erfahren wir nicht viel mehr, als dass er sich mit traumwandlerischer Sicherheit und einiger Unverfrorenheit durchschlägt und dabei zumindest seinem Traum vom Weltall näher kommt. Die Reise des Übersetzers dagegen wird für diesen im eigentlichen Sinne eine Reise zu sich selbst, auch wenn es angesichts seines unwilligen Fremdelns am Anfang nicht danach aussieht.
In Boswells Tagebuch, die der Reisende in Krakau übersetzt, heißt es einmal: „Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo du dir etwas angewöhnst, was du dein ganzes Leben nicht mehr loswirst.“ Im Falle des Übersetzers ist diese neue Angewohnheit das Reisen. Immer mehr gewöhnt er sich an den losgelösten Zustand unterwegs, immer aufmerksamer wird er den Dingen gegenüber, immer offener für die Menschen, die er trifft. Und je weiter er sich von Berlin entfernt, desto vertrauter wird ihm die Fremde.
Gernot Wolfram, der unlängst selbst ein Jahr lang in Polen gelebt hat, beschreibt diese Entdeckung der Fremde liebevoll als einen Aufbruch. Dass ihm dabei manches Bild schief gerät (wie etwa das von Samuels Armen, die an seinem „schmalen Körper wie eine Sonderattraktion herumhingen“), darüber wollen wir angesichts so viel schelmenhafter Aufbruchsstimmung gern hinwegsehen. ANNE KRAUME
Gernot Wolfram: „Samuels Reise“. DVA, München 2005, 208 Seiten 18,90 €