Njet-Set und Terror-Desperados

■ Die Protestler von '68 waren ein querulantischer Njet-Set, der endlich dank der Ökologiebewegung und der von ihr aufgeworfenen Fragestellungen von einer Generation mit den erforderlichen technischen und wissenschaftlichen Kenntnissen abgelöst wird.

Niklas Luhmann

„Everybody's got something to hide, except me and my monkey“, sangen die Beatles 1968 mit offensichtlich breiter Zustimmung. Im Rückblick erstaunt nicht der Vorwurf, sondern die Ausnahme. Daß jedermann sündig war, wußte man schon immer; aber daß es eine Ausnahme gab, das war neu. Und es wurde so in die Welt hinausgesungen, daß jedermann glauben konnte, er selber sei die Ausnahme. Ob jemand jemals es wirklich geglaubt hat, weiß man nicht; aber man konnte so tun als ob.

Dazu mußte freilich die Unschuld eine Position erhalten irgendwo in der Welt, aber außerhalb der Gesellschaft. Die Blumen und die Strände, an denen man von nichts leben konnte, mochten das symbolisieren. Die Universitäten schienen eine Möglichkeit zu bieten - eine Position, von der aus man, mit Finanzierung durch andere, Appelle an andere absenden konnte. Von all dem sind letztlich nur die Verstecke der Terroristen übriggeblieben und mit ihnen die Anmaßung, Schuld als Unschuld praktizieren zu können.

Es gibt eine alte mönchische Tradition, die besagt, daß man schweigen müsse, wolle man jede Infektion mit Welt vermeiden. Hier war nun das Umgekehrte zu erfahren: Man müsse nicht schweigen, sondern appellieren und notfalls seinen Appellen durch Aktion Nachdruck verleihen - durch unschuldige Aktion der Akteure und ihrer Affen (und im Bereich der Werkzeuge heißt monkey dann auch noch: Rammbock, Fallhammer). Aber was ist das für eine Position, von der aus man die Gesellschaft beobachten, kritisieren, eventuell angreifen kann, ohne selbst dazuzugehören?

Auch hierzu gaben die Beatles 1968 Auskunft: „Your inside is out and your outside is in.“ Man kann also in der Gesellschaft rebellieren, so als ob man von außen käme.

1968 wird als Jahr der Unruhe, ja der institutionellen Krise erinnert. Die Ereignisse kamen überraschend, auch für die Akteure selbst, und das mag den Eindruck, den sie hinterließen, vergrößert haben. Zufällige Vorfälle, der Schuß auf Benno Ohnesorg zum Beispiel, schossen die Studenten aus der Gesellschaft hinaus - und von da ab konnte man über den Rasen laufen.

Auch im Rückblick fehlt es an überzeugenden Erklärungen. Sicher ist nur, daß die aktuelle gesellschaftliche Lage keinen Anlaß bot - weder in Frankreich noch in Deutschland, weder in Italien noch in den USA. Überall konnte man wirtschaftliche Prosperität, Zuwachs an Ausbildungschancen und tendenziell gefestige Demokratie (verglichen etwa mit den düsteren Prognosen der dreißiger und frühen vierziger Jahre) beobachten. Macht, wie man sagt, zuviel des Glücks übermütig? Nieten aus dem Busch?

Man könnte denselben Schritt auch als Sequenz der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen begreifen, die von großen Hoffnungen und Vorschußlorbeeren begleitet waren und dann in den organisatorischen Realisierungen der Industriebetriebe, der Bürokratien und oligarchischen Parteistrukturen sowie schließlich der Schulen und Universitäten enttäuschen mußten. Die Lobsprüche und Legitimationsfloskeln der Alten gaben den noch nicht arrivierten Jungen keinen Sinn.

Allerdings zeigte es sich dann sehr rasch, daß die darauf begründete Hoffnung auf eine Solidarisierung von Industriearbeiterschaft und akademischer Jugend eine Illusion blieb - eine Illusion der letzten, der noch nicht arrivierten Protestler. Was schließlich entstand, war eine Zersplitterung der einstmals geschlossen-sozialistischen sozialen Bewegung in thematisch heterogene „neue soziale Bewegungen“ - so als ob die funktional differenzierte Gesellschaft ihre eigene Einheit nicht einmal mehr in der Form eines Protestes gegen sich selbst formulieren könnte. Resignierte biographische Arrangements eines neuen Njet-Set auf der einen Seite und Terror-Desperados auf der anderen waren die Folge. Wer die Gesellschaft von außerhalb attackieren wollte, mußte dies aus dem Versteck heraus tun.

Erklärungen dieser Art befriedigen kaum. Sie geben nur oberflächliche Anhaltspunkte. Man muß hinzunehmen, daß die Lockerung sozialer Bindungen, ihrerseits eine Folge funktionaler Differenzierung, nicht eine neue Solidarität erzeugt, wie Durkheim angenommen hatte, sondern ein Bindungspotential freisetzt, das zu anlaßbedingten überraschenden Amalgamationen führen kann, die sich jedoch bald wieder auflösen - biographisch und für weltweite Orientierungs- und Diffusionsmöglichkeiten.

Aber Massenmedien sind nicht gerade geeignet, Reflexion zu stimulieren, ganz zu schweigen vom Aufbau einer zeitgemäßen Theorie. So wurde das Paradox, wie man die Gesellschaft in der Gesellschaft so beobachten und kritisieren könne, als ob es von außen wäre, naiv angegangen und naiv gelöst - mit Rückgriff auf schon vorhandene Literatur - den halben Marx und die ganze (psychodramatisch erweitere) Frankfurter Schule.

So weit, so schlecht. Von Marx hätte man eigentlich lernen können, daß die Kritik politischer Ökonomie in genauem Anschluß an eben deren Selbstdarstellung zu vollziehen ist; und daß sie in der Gesellschaft als Resultat der Dialektik ihrer eigenen Widersprüche zu erwarten sei. Die Position, von der aus das zu vollziehen wäre (die Position der ausgebeuteten Klasse als des intrernen externen Beobachters), war jedoch bereits aufgelöst worden.

Die Frankfurter Schule hielt noch an der Vorstellung fest, daß die Realwidersprüche der Gesellschaft sichtbar gemacht werden könnten und dem kritischen Beobachter seinen Gegenstandsbezug vermitteln, wie immer er dann als Aufklärer in die Widersprüche hineingezogen werde. Wie aber, wenn die Widersprüche überhaupt nur eine Konstruktion des Beobachters sind? Und wie überhaupt soll der Beobachter vorgehen, wenn er (mit einer widerspruchsfreien Logik?) eine widerspruchsvolle Realität beweisen will. Everybody's got something to hide - except me and my monkey?

Der Plötzlichkeit des Ausbruchs von Unruhe entsprach die Dürftigkeit ihrer intellektuellen Ausstattung, die Unbekümmertheit ihrer Sprüche, die Naivität ihrer Vorwürfe. Was schon einmal unter ganz anderen Bedingungen als Kritik gedient hatte, wurde nur neu aufgeladen und wiederbenutzt. Entsprechend rasch kam die Ernüchterung. Gewiß: die Idee ist unabweisbar, daß alles auch ganz anders gehen könnte. Eine ganze Armee von Intellektuellen hat sich dadurch inspirieren lassen - nur um letztlich auf einer Ja/Aber-Position zu landen, ohne dann erkennen zu können, daß man falsch gestartet war. Postmodernes Rokoko

Es gibt manche Zeichen dafür, daß die Frage nach der Art der Gesellschaft, in der wir leben, nur noch dringlicher geworden ist. Was gescheitert ist, ist die Naivität und die Leichtfertigkeit der Beschreibung. Und was inzwischen auch gescheitert ist, ist das Rokoko der postmodernen Beliebigkeit. Was gefordert ist, ist eine neue Strenge und Genauigkeit im Beobachten und Beschreiben und, wenn man so weit gehen kann, im Begreifen.

Für die 68er Bewegung war das Problem der Gesellschaft noch primär wie im 19. Jahrhundert ein Problem der Verteilung gewesen, ein Problem der Gerechtigkeit, ein Problem der Benachteiligung, ein Problem der Beteiligung. Eine Gesellschaft - und wenn man angreifen wollte, sagte man „Herrschaft“ - die nicht imstande ist, dieses Problem angemessen zu lösen, erschien als ein „System“ ohne Legitimität.

Ihr gegenüber war ein Hinweis auf Normen und die Forderung nach Einlösung der Normen, die man nicht leugnen konnte, angemessen. So argumentiert Jürgen Habermas, auf seine Weise untadelig, noch heute. Solche Normen müssen gedacht werden als Voraussetzungen sinnvoller Kommunikation, als etwas, das man logischerweise akzeptieren muß, wenn man in Kommunikation eintritt, um Verständigung zu suchen. Setzt dies ein vorgesellschaftlich gegebenes Individum, also ein „Subjekt“ im klassischen Sinne voraus?

Die Kritik und die Rebellion finden nicht außerhalb der Gesellschaft, sie finden innerhalb der Gesellschaft statt. Das weiß man seit 1971 - seitdem Edmund Burke die Französische Revolution beschrieb. Man kann nicht unschuldig bleiben.

Die Theorie hat nicht das letzte Wort. Wenn sie als Kommunikation Erfolg hat, verändert sie die Gesellschaft, die sie beschrieben hatte; verändert damit ihren Gegenstand und trifft danach nicht mehr zu. So hat die sozialistische Bewegung zu einer Marktunabhängigkeit der Arbeitspreise geführt - eine Tatsache, mit der wir nun leben müssen. So hat die Partizipationsbewegung der 68er, soweit sie sich auswirken konnte, zu riesigen Partizipationsbürokratien geführt und damit zu einem immensen Zuwachs an organisierten Entschuldigungen dafür, daß nichts geschieht, - einer Tatsache, mit der wir nun leben müssen. Die Wirklichkeit sieht anders aus als die Theorie, die sie herbeiführen wollte.

Was ist aus dieser Affäre zu lernen?

Zunächst und vor allem: „Die“ Gesellschaft hat keine Adressen. Was man von ihr verlangen will, muß man an Organisationen adressieren. Paradoxe Effekte von Gesellschaftstheorie

Auf der Ebene der theoretischen Beschreibungen muß man alledem entnehmen, daß es keinen Standpunkt außerhalb der Gesellschaft und in moralischen Dingen keine unschuldigen Positionen gibt, von denen aus man die Gesellschaft „kritisch“ beschreiben und Vorwürfe lancieren könnte. Wir haben keine Labyrinththeorie, die erforschen und dann voraussagen könnte, wie die Ratten laufen. Wir selbst sind die Ratten und können bestenfalls versuchen, im Labyrinth eine Position zu finden, die vergleichsweise bessere Beobachtungsmöglichkeiten bietet.

Eine Gesellschaftsbeschreibung ist immer eine Beschreibung, die den Beschreiber selbst einbeziehen muß. Andernfalls bleibt, was ein Beobachter beobachten könnte, unvollständig. Aber kann ein Beschreiber sein eigenes Beschreiben beschreiben? Oder führt ihn allein schon diese Zumutung in die Pardoxie eines Tristam Shandy oder aller sonstigen Versuche, sich selbst in die eigene Beschreibung einzuschließen?

Sieht man das ein, dann sind paradoxe Effekte des Gebrauchs von Gesellschaftstheorie geradezu systematisch zu erwarten; und das, was den 68ern passiert ist, soweit sie Theorie als Waffe benutzt haben, ist genau das, was eine andere Theorie voraussehen und erklären kann.

Die Szene, und ich meine jetzt die philosophisch -literarische Szene, inszeniert bereits das Paradox. Sie gibt sich im Anschluß an Nietzsche oder Heidegger oder Derrida eine expressive Form, der jedoch alle Strenge und Genauigkeit abgeht. Man kann vermuten, daß hier das Problem liegt, das unser Jahrhundert noch zu lösen hätte.

Die ökologische Bewegung sieht sich, wenn sie scharf denkt, vor dem gleichen Problem. Denn hier geht es letztlich um die Frage, ob und wie das Gesellschaftssystem, das als System seine Umwelt ausschließt und anders gar nicht System sein kann, Information über die Umwelt gleichwohl einschließen kann, so daß in der Gesellschaft abschätzbar wird, wie sich Umweltveränderungen auf die Gesellschaft auswirken werden.

Die unbestreitbaren, gravierenden zukunftsbedrohenden Veränderungen in der natürlichen Umwelt, die die Gesellschaft selbst auslöst, werden allmählich zum Rationalitätsproblem dieses Jahrhunderts. Die Gesellschaft ist für ihre eigenen Operationen auf hohe Indifferenz gegenüber ihrer Umwelt angewiesen, kann sich aber gerade dies nicht mehr leisten.

Von den Problemen und von den Anforderungen an Theorie her gesehen muß man es als einen historischen Zufall betrachten, daß die Kommunikation über ökologische Probleme fast gleichzeitig mit oder jedenfalls kurz nach den 68er-Unruhen einsetzte. Diese Konstellation bot der Generation der 68er nach dem Scheitern ihrer Impulse und nach dem Altwerden ihrer theoretischen Inspirationen eine neue Heimat. Ohne die Gegenstellung zur Gesellschaft, die Attitüde der radikalen Kritik und die Heftigkeit des Protestes aufzugeben, konnte man in eine neue Problematik einwandern und damit nicht zulezt die biographischen Probleme des Aus-der-Mode-gekommen -Seins lösen.

Zumindest in Deutschland - in Frankreich liegen die Verhältnisse anders - wurde auf diese Weise die ökologische Problematik zum Thema einer Protestbewegung mit weitreichenden Auswirkungen auf die öffentliche Meinung, auf Berichterstattungen in der Presse und auf die Politik. Eine so rasche Politisierung der Umweltprobleme wäre anders kaum erreicht worden.

Es mag etwas übertrieben sein, aber mir scheint, daß der eigentliche Erfolg und der positive Beitrag der 68er zur Gesellschaftspolitik erst mit dieser Spätzündung, erst durch ihren Einstieg in das Ernstnehmen der ökologischen Problematik zustandegekommen ist. Seitdem haben oberflächliche Beschwichtigungen und extrem kurzfristige Folgeeinschätzungen politisch einen schweren Stand.

Andererseits ist die Solidarität in der Angst natürlich kein Prinzip, mit dem man regieren und verwalten könnte. Insofern schließt sich die Bewegung selbst aus der Verantwortung aus, wenn sie versucht, sich in einer extremen Position der Unschuld zu halten. Aber so wie die Roten werden auch die Grünen nachdunkeln, wenn sie in Ämter kommen. Erst in der Organisation werden sie mit einer Realität von fragwürdiger Realität konfrontiert.

Die 68er sind älter geworden. Sie sind nicht weiser geworden. Und nach und nach werden sie durch jüngeren Nachwuchs abgelöst, der mit den notwendigen Kenntnissen über Halbwertzeiten und Meßverfahren, Dioxinverbrennungs- und Abfallsortierungstechniken aufgewachsen ist.