■ Nippon hilft Rußland – wird der Westen Vietnam helfen?: Japan ist zum Kompromiß bereit
Hoch hält der Westen die Nase über Nippons Ankündigungen einer neuen Rußlandpolitik. Viel zu spät komme die japanische Erkenntnis, daß Jelzin unersetzlich sei. Wieder habe Japan erst auf scharfen Druck aus Washington reagiert, um seine Außenpolitik zu korrigieren. Sogar die japanische Presse war gestern der Meinung, daß die Tokioter Regierung ihre Milliarden über Jelzin nicht aus eigenem Interesse verschütte, sondern nur um den Frieden in der Gruppe der reichsten Industrieländer zu bewahren. Damit übernehmen Nippons Kommentatoren freilich nur die Formeln des Westens. Der nämlich gebietet, gerade dann über japanische Duckmäuserei zu maulen, wenn der asiatische Kranich seine Flügel streckt.
Selbsttäuschung diktiert die Rhetorik des Westens. Ein ehrlicher Helmut Kohl hätte der Welt längst erklärt, daß ohne Yen-Milliarden niemand mehr Boris Jelzin zu helfen weiß. Welch eine großtuerische Heuchelei, als Bill Clinton den Japanern ungefragt auf dem Gipfel in Vancouver eine „führende Rolle“ in der Rußlandhilfe andichtete. „Ohne euch geht es nicht“, wären die Worte, die auch der japanische Steuerzahler verstanden hätte. Doch die westlichen Staatsmänner können nicht eingestehen, daß selbst ihre Hilfsversprechen sämtlich nur auf neuen Schulden bauen. Nicht etwa, daß der japanische Staat schuldenfrei wäre. Aber Nippon führt seit nun schon sechs Jahren vor, wie ein Regierungsbudget so zu führen ist, daß die Einnahmen die Ausgaben übersteigen. Darauf basiert die Überzeugungskraft aller japanischen Zurückhaltung, aber auch aller japanischen Hilfsbereitschaft, wie sie heute in Aussicht steht.
Es ist ein ungleiches Versprechen: Im Westen beginnt jede Hilfe mit der Moral, in Japan gleich beim Geld. Fragt sich nur, was bestimmt die Weltpolitik? Geld oder Moral?
Die japanische Regierung handelt nicht unbedacht und schon gar nicht gegen ihre Interessen. Der Atomunfall in Tomsk verbreitete erst vor wenigen Tagen den Schrecken einer radioaktiven Gefahr für Japan. Das sowjetische Atommülldumping im japanischen Meer hat Japan noch unmittelbarer bedroht. Das sibirische Risiko ist den Japanern viel später zu Bewußtsein gelangt als das Tschernobyl-Risiko den Europäern. Deshalb kommt auch die Hilfe später.
Darüber hinaus demonstriert Tokio seine weltpolitische Kompromißfähigkeit. In Asien hat sich das zweifelhafte Prinzip bewährt, erst die Wirtschaft aufzubauen und dann die Demokratie. Im „Fall“ Jelzin stellt Japan diese (auch eigene) Erfahrung zurück. Vietnam könnte zeigen, ob der Westen umgekehrt bereit ist, mit seinen Hilfsprogrammen auch den „asiatischen“ Weg zu gehen. So jedenfalls ist die japanische Rußlandhilfe gemeint. Georg Blume, Tokio
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