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Archiv-Artikel

Nichts sagen, nichts tun, nicht hingucken

Todesfall Jessica und CDU-Bestechungsaffäre beschäftigen Parlamentsausschüsse: Kontrahenten Claußen und Warnholz schleichen sich heimlich in den Sitzungssaal, Schul- und Sozialsenatorin wehren sich vor polemischen Schuldzuweisungen

Von Kaija Kutterund Sven-Michael Veit

Sie schlichen sich in den Sitzungssaal, als hätten sie etwas zu verbergen. Nachdem die Fotografen die Sitzung des Innenausschusses im Rathaus gestern Nachmittag hatten verlassen müssen, kamen auch die beiden Wandsbeker CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Bruno Claußen und Karl-Heinz Warnholz, die sich wechselseitig der Lüge, versuchter Bestechung und Verleumdung bezichtigen, mit gut viertelstündiger Verspätung zur Arbeit – durch die Hintertür.

Christoph Ahlhaus (CDU) focht das nicht an: Er sei „zuversichtlich, dass alle Mitglieder des Ausschusses ihre Pflichten verantwortungsvoll wahrnehmen“, hatte der Interimsvorsitzende des Gremiums zum Auftakt getreuherzt. Das aber konnten Claußen und der offizielle Vorsitzende Warnholz, der sein Amt wegen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen ihn ruhen lässt, ja nicht gehört haben.

Zuvor hatten Andreas Dressel (SPD) und Antje Möller (GAL) die Union aufgefordert, ihre innerparteilichen Querelen nicht zur Belastung für das Parlament werden zu lassen. Und sie kritisierten, dass sie vom Wechsel im Vorsitz „aus der Presse“ erfahren mussten. Das sei alles, räumte Ahlhaus entschuldigend ein, „etwas überstürzt gelaufen“.

Bereits am Vormittag hatte der Wandsbeker CDU-Kreischef Jürgen Klimke sein wochenlanges Schweigen gebrochen – was die Sache nicht besser machte. Er sei „guten Mutes, dass es gelingen wird, die Probleme intern zu klären“, versicherte der Bundestagsabgeordnete in einer windelweichen Verlautbarung: „Trotz des heftigen Gegeneinanders“ sehe er „Chancen für eine künftige konstruktive Zusammenarbeit im Kreisverband“, beteuerte Klimke, und fabulierte sich um Kopf und Kragen: „Gemeinsam werden wir einen Weg für solidarisches Handeln suchen.“ Abseits diplomatischer Verbrämungen heißt das im Klartext: Die Hütte brennt lichterloh.

Für Bürgermeister Ole von Beust, selbst Mitglied im CDU-Kreis Wandsbek, ist dies noch lange kein Grund zum Eingreifen. Er lasse sich täglich über den Stand der Krise unterrichten, versicherte gestern sein Sprecher Lutz Mohaupt, aber er wolle dazu „nichts sagen und nichts tun“, weil er „das Krisenmanagement bei der Fraktionsführung in guten Händen“ sähe.

Zeitgleich saßen in symbolischer Eintracht Seit‘ an Seit‘ Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) und ihre parteilose Kollegin Alexandra Dinges-Dierig in der Sondersitzung des Schul- und Jugendausschusses über den Hungertod der siebenjährigen Jessica. Von einer „schrecklichen Tat“ der Eltern sprach Schnieber-Jastram, die bei vielen Bürgern „Trauer und Zorn“ auslöse, und ermahnte die Opposition, bei dem Thema „das Kindeswohl im Auge zu haben und keine polemischen Schuldzuweisungen zu treffen“. Ein Hinweis, der gezielt der SPD galt, wie sie später erklärte.

Der Verlauf der Sitzung machte sehr schnell deutlich, dass der Fall Jessica keineswegs nur in die Verantwortung von Schulsenatorin Dinges-Dierig, sondern zum größeren Teil ins Sozialressort gehört. Schnieber-Jastram erklärte, sie habe nach dem Tod des Kindes ihre Behörde und die Bezirke veranlasst zu prüfen, „ob und wie“ Arbeitsabläufe verbessert werden können und ob die Mitarbeiter hinreichend für die Problematik der Kindeswohlgefährdung sensibilisiert seien. Diese seien, so ihr Fazit, „im Großen und Ganzen gut aufgestellt“.

Dennoch hat die Behörde zusammen mit den Bezirken eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um zu prüfen, wie Familien möglichst früh mit Hilfsangeboten erreicht werden können. Wenn die Eltern versagen, so die Sozialsenatorin, müsste der Staat die Kinder schützen: „Wir dürften aber nicht verkennen, dass es in einem freiheitlichen Rechtsstaat keine absolute Sicherheit geben wird.“

Eine Floskel, der sich auch Dinges-Dierig anschloss, nachdem sie nochmals den geplanten Schulzwang und die Einrichtung einer zentralen Schülerdatei ankündigte. „Ich habe den Eindruck, dass wir bei der Vernachlässigung von Kindern vor einer neuen Dimension stehen“, hielt die SPD-Abgeordnete Britta Ernst dagegen. Weshalb sich die Frage des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft neu stelle. Sie habe den Eindruck, dass unter dem Vorwand, man wolle Familien schützen, „zu lange nicht hingeguckt“ werde.

Die Sitzung dauerte bei Redaktionsschluss noch an. Auf Wunsch aller Fraktionen wurde ein Sonderausschuss „vernachlässigte Kinder“ eingesetzt. Der Fall Jessica wird das Parlament also noch länger beschäftigen.