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Nichts ist mehr tabu

betr.: „Eine anerkannte Private“ (Uni Witten-Herdecke), taz vom 4. 7. 01

[...] Welcher Akademiker wünscht sich denn nicht Veränderung am System, einen direkten Zugang zur Entscheidungsgewalt, mehr Demokratie und moderne Forschung, kleine Seminare, keine Massenveranstaltungen? Ich als Student kann das verstehen. Es ist auch mein Anliegen.

Und natürlich wünschen sich auch Vertreter der industriellen Wirtschaft und IT-Branche nichts sehnlicher, als die akademischen Schmieden instrumentalisieren zu können – für frische junge Arbeitskräfte, die kostengünstig arbeiten, am besten rund um die Uhr und unter ständiger Verfügbarkeit. [...]

Die (Medien-)Kampagnen haben den seit Jahren steigenden Privatisierungsdruck inszeniert. Ein neues Bild von Staat und Sozialstaat wurde geprägt. Zugleich aber auch das unternehmerische Denken der früheren Wirtschaftsklasse dem Bürgertum impliziert: 1. Der Staat nimmt nur und gibt mir nichts dafür; 2. Er ist ineffizient, verschlingt unsere Steuergelder und gibt uns nichts dafür; 3. Politiker und Staat sind eine Einheit, und sie sind nicht für die Gesellschaft da; 4. Soziales Engagement und öffentliche Institutionen sind unter staatlicher Regie nicht nach dem Vernunftgebot zu führen.

Weit ausgeholt, jetzt zur privaten „feinen Uni“. Sie ist die Lösung des staatlichen Debakels, Herr Füller?! So mutig sind viele Politiker nicht. Sie scheuen noch die Studiengebühr, versuchen sich kreativ an Drittwegen, Verzeihung! Drittmitteln. Ein Beispiel, bitte: Sehen Sie, wie das Pflänzchen der neuen Ökonomie sprießen darf. Frau Behler (NRW-Bildungsministerin) braucht sich nicht hinter Konzepten zu verstecken. Im Pausen- und Aufenthaltstraum des Philosophikums darf es jetzt Verkaufsgeschäfte geben. Die Bonner Uni darf sich am Stammzellentreiben beteiligen. Sogar Ministerpräsident Clement stolpert ganz bewusst in die neue Diskussion ganz der Schröder’schen Art: Nichts ist mehr tabu, sofern es nur dem Geld und der Wirtschaft dient. Dafür macht dann auch der klamme Staat die Kohle locker.

Warum also noch auf alte Pferde setzen? Ist die Hochschule unter staatlicher Verantwortung noch reformierbar? Scheinbar nein, so der Medientenor. Es fehlen der Mut und die Kreativität, aber auch die Vision, sich gegen den Trend zu stellen. Eine Gesellschaft profitiert von Möglichkeiten, die sie den Menschen einräumt. Damit meine ich zum Beispiel die Vielfalt im wissenschaftlichen Angebot. Die Existenz marginaler und kleiner Studiengänge, denen keine wirtschaftliche Relevanz beigemessen wird. Und die jetzt gerade in Nordrhein-Westfalen gestrichen werden sollen, um Kosten zu sparen. Eine moderne Gesellschaft braucht aber eben Pluralität, vielleicht auch wissenschaftliche und gesellschaftliche Minderheiten, um dialektische Entwicklungsprozesse forcieren zu können. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung alleine reicht hierbei nicht aus, eine Selbstverpflichtung privater Hochschulträger sowieso nicht. Schließlich scheint aber doch die frühkapitalistische Ära eine Renaissance zu erleben. Einer für alle und keiner für einen. Glück den Glücklichen! Beispiel Hochschule: „Wer heute nicht bezahlen kann, holt das eben nach dem Studium nach – wenn die Dividende in Form eines gut bezahlten Jobs abwirft“ (Füller).

Ist das wirklich so einfach? Ich finde nicht. Fortschrittsglauben ist nicht alles. Der Zweck sollte nicht eine differenzierte Betrachtung verbauen. Erschreckend das Menschenbild, welches hier dargestellt wird: Der Mensch hat keinen Wert an sich. Seinen Wert bestimmt der Marktwert, eben das beruflich-wissenschaftliche Wissen, das Bildungsgut. Der Mensch ist aber kein Wertpapier, welches Dividende abwirft, wenn man nur zehntausende investiert. [...] W. R., Köln

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