: Nicht vor der Angst fliehen
VON LUTZ DEBUS
Schlanke Finger suchen in dem Haufen von Halbedelsteinen nach den passenden Objekten. Drei dicke dunkle Steine werden zu Grosseltern. Ein mittelgroßer rosa Stein stellt die Mutter dar, ein dunkler den Vater. Und dann legen die Finger noch drei kleine spitze Steinchen in die erste Reihe, die drei Töchter.
Marina ist seit drei Wochen Patientin in der Tagesklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Essen. „Aufgenommen?“ „An irgendeinem Dienstag“, antwortet die 16-jährige. Am Anfang war es furchtbar. Sie fühlte sich so allein. Ohne die Eltern. Weg von Zuhause. Was würde passieren, so durchzuckte es sie, wenn sie hier unter so vielen fremden Leuten eine Panikattacke bekäme? Die blieb zwar aus. Aber es kamen Magenkrämpfe, später Weinkrämpfe. Der erste Tag war hart. Aber irgendetwas musste geschehen. Das sagte ihr die Mutter. Im Internet waren die Eltern auf die Adresse der Tagesklinik gestoßen. Von speziellen Behandlungen für Schulverweigerer lasen sie. Und Marina war schon fünf Monate lang gar nicht mehr zur Schule gegangen. Ja, irgendetwas musste geschehen, gibt Marina ihren Eltern inzwischen recht.
Begonnen hatte alles mit einem Unfall während des Sportunterrichtes. Beim Salto ist ihr das eigene Knie an den Kopf geknallt. Nur eine kleine Gehirnerschütterung, vermutete man. Aber die Schwindelgefühle hörten nicht auf, wurden sogar schlimmer. Die Kernspintomographie zeigte keinen Befund. Auch der Internist, der Kardiologe, der Augenarzt, der Orthopäde und der HNO-Arzt fanden keine Ursache für die Schwindelanfälle. Und dann – es war eine sechste Stunde – bekam sie einfach keine Luft mehr und rannte aus der Klasse. Trotz ihrer Angst, dass so etwas wieder geschehen könne, quälte sie sich wieder in die Schule. Ein Praktikum fand sie okay. Auch die Nebenfächer. Aber in Englisch, Deutsch, Mathe, da durfte sie nicht dazwischenreden. „Quatschen lenkt ab. Da denk ich nicht so sehr an meine Angst.“ Ab Februar ging sie gar nicht mehr zur Schule. Nachts schlief sie bei Licht, im Schlafzimmer ihrer Eltern. „Erst waren sie voller Mitleid.“
Marina zuckt bei diesem Satz mit den Schultern, schaut auf das Grüppchen von Halbedelsteinen auf dem Tisch vor ihr. Kurze Blicke, kurzes Lächeln. Ihre Finger immer in Bewegung. „Altersadäquate Entwicklung“, steht in ihrer Akte. Dunkles, hochgestecktes Haar, grosse braune Augen, ein sorgfältig aber dezent geschminktes Gesicht. Marina könnte auch als Model oder Popstar durchgehen. Die Mutter fände das gut. Für alle drei ihrer Töchter. Wünscht denen nur das beste. Nein, an den Eltern liegt das nicht mit der Panik und dem Schwindel und der Atemnot. Häufig seien Eltern angsterkrankter Kinder und Jugendlicher tendenziell überbehütend, sagt die Therapeutin Gabriele Kohn.
Sie betreut auch Marina, führt zwei Mal in der Woche Einzelgespräche mit der Schülerin, die nicht zur Schule geht. Das Mädchen und die Frau sitzen sich dann auf Schaumstoffpolstern gegenüber. Wenn Marina aufsteht, wird ihr schwindelig. Das sei normal, das vergehe wieder, tröstet sie dann die Psychologin. Es sei wichtig, so Gabriele Kohn, zu lernen mit der Angst umzugehen. Zu erfahren, dass sie kommt und wieder geht. „Spüre deine Hände auf dem Tisch.“ Die Stimme der Psychotherapeutin klingt eindringlich und ruhig zugleich. Auch ganz simple Tricks hat Gabriele Kohn auf Lager. Bei drohenden Panikattacken im Auto helfe es, die vorbeifahrenden roten Pkws zu zählen. Im Park der Klinik gehen die beiden oft spazieren. An heißen Tagen eine Herausforderung für Marina. Wegen der drohenden Atemnot. Immer wieder fordert Gabriele Kohn sie auf: „Übe, die Angst zu erleben.“
In der Gruppentherapie sitzen sieben Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis achtzehn Jahren. So etwas wie eine Familiensituation soll entstehen, mit Geschwistern. Die Diagnosen unterscheiden sich: Depressive Kinder, autistische Kinder, Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Viele gelten als Schulverweigerer. Marina rannte in den ersten Stunden oft raus, musste was trinken, auf die Toilette, an die Luft. Inzwischen sagt sie, dass ihr die Gruppe wichtig sei, dass sie gemerkt habe, mit ihren Problemen nicht die einzige zu sein. „Man ist hier nicht allein.“
In den Gesprächen mit ihrer Therapeutin forschte Marina nach möglichen Ursachen ihrer Angst. „Meine Mutter und mein Onkel haben mir erzählt, dass sie das früher auch hatten“, erinnert sie sich. Tatsächlich berichtet die Mutter am Telefon, dass sie als Kind selbst unter Panikattacken litt. Marinas Großmutter nämlich, habe im Krieg Schlimmes erlebt. Und das habe sie immer und immer wieder ihren Kindern erzählt. Das hat Marinas Mutter geprägt. Was genau aber die Großmutter erlebt habe, sei nicht klar. „Ja, Omas Kriegsgeschichten“, seufzt die genervt wirkende Marina bei ihrer Therapeutin. Auch sie wisse nichts Genaues. Eine kleine Pause entsteht. Dann hat Gabriele Kohn eine Idee: „Leg die Steine doch einmal so, wie du es möchtest. Wer soll Dir nah sein, wer fern?“ Ein Häufchen entsteht. Alle Steine dicht an dicht. Marina in der Mitte. Gabriele Kohn nickt leicht: „Da hätte ich auch Atemnot.“
Später erzählt Marina von ihren Träumen. Stylistin oder Kosmetikerin will sie werden. Und reisen will sie. Mit dem Rucksack nach Indien. Abenteuerurlaub. „Einfach sehen, wie ich klar komme.“ Fotos machen. Leute kennen lernen. Dann fällt ihr schnell wieder ein, dass sie mit ihrer Angst ja nicht einmal aus dem Haus heraus kam. Keine Disco. Kein Freund.
Jetzt muss sie erst einmal zusehen, dass sie nicht sitzen bleibt. Die Klassenlehrerin schickt ihr Übungsblätter ins Krankenhaus. In der Tagesklinik gibt es auch eine Schule. Die sei aber ganz locker: ein Lehrer für drei Schüler. „Die gehen voll auf mich ein.“ Aber auch die Realschule, auf die sie zuvor ging, war eigentlich nicht schlecht. „Die hätten nur früher merken müssen, dass mit mir etwas nicht stimmt.“
Robert Schwennbeck, der Leiter der Tagesklinik, erweitert das Bild. Bei dem individuellen Schicksal von Marina dürfe man nicht vergessen, wie oft Mobbing und Gewalt Ursache von Schulverweigerung seien. So etwas wahrzunehmen und mit schwierigen gruppendynamischen Prozessen umzugehen, sei an den Schulen oft nicht leicht. Viele Pädagogen wären sehr dankbar für konkrete Hilfe, wie sie beispielsweise durch eine themenbezogene Supervision geleistet werden könne. Leider fehle es den Schulen dafür bisher an Mitteln.