SPAZIERGäNGE : Nicht bei Street View
Es war 12 Uhr mittags: Wir starteten am U-Bahnhof Yorckstraße und ließen gerade den Matthäi-Friedhof hinter uns. In „Die Poggenpuhls“ hatte Theodor Fontane seine Protagonisten durch das eine Fenster auf den Gottesacker, durch das andere auf die Bonbonfabrik eines bürgerlichen Emporkömmlings blicken lassen.
Mein Begleiter Heiner schnaubte, das sei der Thantalos-Trieb (Tod und Sex in einem). Wir zischten auch schon durch Schöneberg, passierten Friedenau und fanden uns am Bierpinsel wieder. Heiner, der im bürgerliche Leben Psychotherapeut war, erzählte von seinen Patienten. Gerne vergleicht er die Schicksale seiner „Verrückten“ mit meiner Wenigkeit. Ich nickte und beschleunigte den Schritt. Wir überschritten eine Kreuzung, der Botanische Garten lag hinter uns, die Euphorie von Marathonläufern erfasste uns, ein Schild kündigte Dahlem an. Heiner fragte, warum diese Straße „Unter den Eichen“ heiße, und ich setzte an zu einem aus dem Ärmel geschüttelten Erklärungsversuch. Vormals, als die Pruzzen, jenes Ostvolk aus Königsberg, gen Potsdam marschierten, brauchten sie eine Aufmarschallee für ihre gepanzerten Kutschen und Flakpfeilgeschütze. Heiner nickte und dachte: Du bist wieder so histrionisch, dass du jede meiner Analyse, ohne es zu wissen, bestätigst.
Ich war zweieinhalb Stunden einen halben Schritt vor Heiner marschiert, denn ich dachte, ich kenne den Weg. Ich hatte mich vorher bei Googles Street View versichert, doch an einer Abzweigung in Zehlendorf schlug ich den falschen Waldweg vor. Wir wollten den Wannsee erreichen – doch statt am Ufer des Schlachtensees gen Süden zu tapern, robbten wir gen Norden die Krumme Lanke entlang. Wir endeten in einer Kaschemme, die selbst bei Google Street View nicht zu finden ist. Bei Schnitzel Wiener Art und Bratkartoffeln.
TIMO BERGER