Nichi Vendola über Linke und Schwulsein: "Du willst Ärger bekommen, oder?"
Der italienische Linkspolitiker Nichi Vendola (SEL) über eine neue Linke, Pionierlager, Grüne, das Ökosystem Mensch und seine schwule Identität.
![](https://taz.de/picture/247552/14/Nichi_Vendola_Carneval_Viareggio2011_dpa_23201323.jpg)
taz: Nichi Vendola, Ihre Partei heißt "Linke Ökologie Freiheit" (SEL). Was bedeutet das konkret?
Nichi Vendola: Als ich die SEL gründete, hat mich die Idee der "Partie" mehr fasziniert als die der Partei. Auch weil Partie im Gegensatz zum männlichen "il partito" weiblich ist, und wir es in Italien mit einer besonders vulgären und machistischen Rechten zu tun haben. Wir wollen eine Partie, ein Spiel spielen, in dem die neuen Güter der individuellen Freiheit zusammengehen mit den Gemeingütern, mit den sozialen Rechten. Und dazu muss die Politik sich wieder das Primat aneignen, sie muss den Märkten Grenzen setzen. Das macht Merkel nicht, das machen Berlusconi und Sarkozy nicht.
Und die Linken sind besser?
Blair, Zapatero, Schröder, in Italien DAlema - das war die neoliberale Linke. Und ich habe immer erst diese Linke, diese "In der Mitte gewinnt man Wahlen"-Leute schlagen müssen, bevor ich mich der eigentlichen Rechten zuwenden und sie besiegen konnte.
Den Drang zur Mitte kennen auch die deutschen Grünen.
Ich habe viel diskutiert mit den Grünen im EU-Parlament. Einiges finde ich interessant, einiges unhaltbar. Man kann nicht zugleich ökologisch und marktliberal sein, das entspricht einfach nicht meiner politischen Kultur. Man muss alle Ökosysteme radikal verteidigen - auch das Ökosystem Mensch.
Welche Position hat die Politik?
In Italien nennt man die politische Klasse eine "Kaste", das ist falsch. Die Politik ist nur der Wachposten des internationalen Finanzbusiness. Die alte radikale Linke hat sich genauso überlebt wie die reformistische. Was ich will, ist eine neue postideologische, pluralistische, populäre Linke, die sich vor allem auf das Neue, auf die Jungen und ihre Sprache einlässt.
Nun sind Sie auch Ministerpräsident einer italienischen Region, Apulien. Wie setzen Sie denn ihre Überlegungen in politisches Handeln um?
Ein Beispiel: Ich bin gegen das TAV- Projekt zwischen dem Piemont und Frankreich. Hier bei uns brauchen wir die Hochgeschwindigkeitszüge aber, um von der Adria nach Neapel zu kommen - heute dauert das vier Stunden für 200 Kilometer. Meine Hochgeschwindigkeit mache ich mit allen Menschen in der Region, Dorf für Dorf diskutieren wir das Projekt. Das darf nicht von oben herabstürzen auf die Menschen. Jetzt haben die Bauarbeitern begonnen, und es gibt keinen Protest, weil allen klar ist, dass es ein ökologisches Projekt ist, dass auch die Belastung durch den Straßenverkehr reduzieren wird.
Wie ist das Verhältnis von der SEL zu den sozialen Bewegungen? - fragen wir den ehemaligen kommunistischen Funktionär.
Vor allem nicht pädagogisch. Aber zu dem Funktionär eine Anekdote?
Gern!
Ich war zum ersten Mal 1970 in Berlin, in einem Pionierlager im Osten. Die ganze Atmosphäre war sehr militärisch, Märsche, Sport usw. Aber überall stand "Mir" geschrieben, Frieden auf Russisch. Da habe ich mich in einer Stunde gemeldet und gefragt: "Wenn dieses Wort so wichtig ist, warum ist dann hier so eine Kasernenstimmung?" Ein Mädchen aus Vietnam drehte sich um und meinte auf Englisch: "Du willst aber auch unbedingt Ärger bekommen, oder?"
Sehr hübsch.
Ich komme aus einer Tradition, in der die Partei der allmächtige Ingenieur war, der sozusagen das Flussbett entwarf, in dem die Bewegungen kontrolliert dahinströmen sollten. Die Partei sah auf die Bewegungen herab und sagte, ah, schau mal, da schwimmt Müll, da ist das Wasser klar usw. Eine linke Partei heute muss mit den Bewegungen mitschwimmen, auch im Schlamm. Sonst haben wir eine Partei, die den Wandel propagiert, aber sich selbst dabei nicht wandelt. Die Partei muss ein Instrument sein in den Händen der Bewegungen - sie waren zuerst da.
Ihre andere Heimat ist die Schwulenbewegung. Welche Rolle spielt diese Erfahrung?
Meine schwule Identität ist für mich fundamental - im kulturellen wie im politischen Sinn. Ich habe dabei sehr viel vom Feminismus profitiert. Mein Schwulsein war das Gegengift zu den totalitären Dogmen der Linken. Ich kann einfach keine Diktaturen ertragen, ich werde verrückt.
Auch nicht die auf Kuba?
Über die Menschenrechtsverletzungen auf Kuba dürfen wir nicht schweigen. Wir dürfen uns aus der Geschichte nicht das raussuchen, was uns gefällt, Luxemburg toll, Che Guevara fantastisch, Stalin nein. Der Staatskommunismus war das Regime der Lüge. Wir müssen mit der Bibel sagen: "Die Wahrheit wird euch befreien."
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