Neulich im Supermarkt: Flashmob als Kampfmethode
Beim Arbeitskampf im Einzelhandel hat die Gewerkschaft Ver.di erstmals Flashmobs eingesetzt. Heute soll das Landesarbeitsgericht über die Rechtmäßigkeit dieser neuen Protestform entscheiden.
Ein Supermarkt am Ostbahnhof: Blumen und frisches Gemüse liegen einladend am Eingang. Für einen Vormittag ist es ungewöhnlich voll hier. Rund 40 Menschen bevölkern die Reihen. Sie schieben Einkaufswagen vor sich her, packen sie voll und bewegen sich in Richtung Kasse. Doch was dann passiert, ist nicht alltäglich. Während einige der vermeintlichen Supermarktkunden ihre vollen Einkaufswagen einfach herrenlos in den Gängen stehen lassen, wartet eine Frau an der Kasse darauf, dass die Kassiererin ihre Waren scannt. Es sind viele und die einzelnen Beträge sind klein. Die Kassiererin braucht lange, ebenso wie die Frau, die die Waren wieder in den Einkaufskorb legt. Doch zum Bezahlen kommt es nicht. Die "Kundin" hat ihr Geld vergessen.
Die Aktion im Supermarkt ist eine Protestform - eine sehr junge. "Flashmobs" sind sonst eher für sinnfreie Aktivitäten bekannt. Dafür, dass hundert Menschen sich zum Beispiel auf einem öffentlichen Platz gleichzeitig auf den Boden legen, hüpfen, eine Kissenschlacht beginnen oder ganz einfach zu Salzsäulen erstarren. Doch im vergangenen Winter konnte auch der gemeine Supermarkt-Käufer einen Flashmob bestaunen: Die Gewerkschaft Ver.di rief beim Arbeitskampf im Einzelhandel auf Flugblättern im Internet zu dieser Protestform auf. Die Koordination der folgenden Aktionen sollte ganz Flashmob-klassisch über SMS laufen. So weit kam es allerdings nicht.
Denn der Protest gegen den Protest ließ nicht lange auf sich warten. In Form einer einstweiligen Verfügung verbot der Handelsverband Berlin-Brandenburg (HBB) über das Berliner Arbeitsgericht der Gewerkschaft zunächst, weiter eine Supermarktkette mit Flashmobs zu blockieren. Auch eine Internetseite, die dazu aufrief, musste vom Netz gehen. Eine "unverhältnismäßige Behinderung" sahen die Richter in den Protesten. Die Anwälte des klagenden HBB jubelten. "Das Gericht hat der Gewerkschaft damit klare Grenzen gesetzt und die Einzelhändler vor Schikanen geschützt", teilte die Kanzlei damals mit.
Die klaren Grenzen sahen die Richter in dem folgenden Verfahren allerdings woanders. In ihrem Urteil lehnten sie die Klage des HBB ab. Der kann das nicht verstehen. "Wir sind entschlossen, dieser Protestform einen Riegel vorzuschieben", sagt Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des HBB.
Die Frage bleibt: Ist ein Flashmob eine rechtswidrige Nötigung und blockiert die Supermarktfiliale unzulässig? Im ersten Verfahren entschieden die Richter: nein. "Jeder Arbeitskampfmaßnahme wohnt ein nötigender Charakter inne", fanden sie. Das sieht der Handelsverband Berlin-Brandenburg anders - und ging in Berufung. Dem HBB geht es dabei nicht nur um verderbliche Ware, die bei der Aktion beschädigt worden sei. Er argumentiert auch mit dem Wohl der betroffenen Mitarbeiter: "Die mussten die Waren unter Gejohle und Trillerpfeifenlärm wieder einräumen", sagt Busch-Petersen.
Das Landesarbeitsgericht Berlin wird das Urteil in der zweiten Instanz voraussichtlich nach der mündlichen Verhandlung am heutigen Montag fallen. Sowohl Ver.di als auch der HBB gehen davon aus, in Berufung zu gehen.
Sollte eines Tages letztinstanzlich bestätigt sein, dass Flashmobs ein zulässiges Mittel im Arbeitskampf sind, könnten sie durchaus öfter auftreten - auch wenn die Gewerkschaft das jetzt noch nicht prognostizieren mag. "Der Flashmob war für uns eine Möglichkeit, auf uns aufmerksam zu machen - in einem Streik, in dem eine halbe Stunde nach Aufruf schon Leiharbeiterinnen in den Läden standen", erklärt Erika Ritter, Verhandlungsführerin für Ver.di in der Tarifrunde im Einzelhandel.
Das würde nicht nur für die Gewerkschaftler eine Umstellung bedeuten - sondern auch für die Einzelhändler. Die könnten beim nächsten Arbeitskampf dann nämlich gleich ein paar Leiharbeiter mehr anfordern - um die vollen Einkaufswagen in den Gängen wieder auszuräumen.
"Standard bleibt der Streik"
Dass Flashmobs künftig den Streik als Protestform ersetzen, findet Heiner Dribbusch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut unrealistisch. Als Ergänzung kann er sie sich dagegen gut vorstellen
taz: Herr Dribbusch, wieso gab es einen Flashmob ausgerechnet im Arbeitskampf des Einzelhandels?
Heiner Dribbusch: Das größte Problem bei einem Arbeitskampf im Einzelhandel ist, einen Laden richtig zu schließen. Das ist viel schwieriger zu erreichen als etwa bei einem Autohersteller. Wenn da keiner am Band steht, dann kann der Betrieb nicht mehr lange weiterarbeiten. Im Einzelhandel lässt sich dagegen mit relativ wenigen Leuten ein Geschäft offen halten. Dazu kommt der Einsatz von Leiharbeitern. Ein Kaufhauskonzern hat sogar einer großen Leiharbeitsfirma den Auftrag entzogen, nachdem diese unter Berufung auf tarifliche Regelungen ihre Leiharbeiter aus einem Streikbetrieb zurückgezogen hatte.
Die Richter schreiben im erstinstanzlichen Urteil, sie erwarten keine "übergroße Popularität" der Flashmobs als Mittel im Arbeitskampf.
Diese Sorge sollten die Richter ruhig der Gewerkschaft überlassen.
Hätte denn der Flashmob als alternative Protestform Zukunft?
Als ergänzende Aktionsform sicherlich. Bezüglich des Gerichtsverfahrens stellt sich die Frage: Was ist ein Flashmob? Es ist eine schillernde Aktionsform, deren Vorteil gerade ihr Überraschungsmoment ist. Wir werden sehen, wie die Gerichte damit umgehen. Wenn 200 Leute in einen Supermarkt gehen und jeder schnappt sich eine Möhre, stellt sich an die Kasse und sagt: "Oh, die hab ich vergessen zu wiegen", kann das verboten sein?
Stellen wir uns vor, die Gerichte bestätigen bis zur letzten Instanz die Rechtmäßigkeit von Flashmobs. Wird es sie dann öfter geben?
Ich denke, es ist auch für Gewerkschaften interessant, eine möglichst breite Palette von Handlungsmöglichkeiten zu haben. Doch beim Arbeitskampf wird es - zumindest erst einmal - darum gehen, durch Verweigerung von Arbeit ökonomischen und politischen Druck auszuüben. Standard wird daher der Streik bleiben. Er ist das einfachste und meist das wirksamste Mittel.
Dennoch wurden bei dem Arbeitskampf im Einzelhandel offenbar Alternativen gebraucht.
Denkbar wäre auch, dass die Kassiererin auf einmal aufsteht und sagt: "Jetzt streike ich", und nach zwei Stunden wiederkommt. Doch der Durchbruch im Juli in Baden-Württemberg wurde am Ende mit unbefristeten Streiks erzwungen, weil sie zu spürbaren Umsatzrückgängen führten. (Der Abschluss in Ba-Wü vom 10. Juli gilt als Pilotlösung für die gesamte Branche, Anm. d. Red.)
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