Neues israelisches Kino: Deserteure der Idee Israel
Raus aus der Enge des Kibbuz' und den Zwängen des Militärs: Fluchtbewegungen sind das Leitmotiv im israelischen Kino - wie in dem Film "Sweet Mud".
Was haben ein halbwüchsiger Kibbuznik, junge israelische Soldaten und ein New Yorker Jude gemeinsam? Sie alle sind die Flüchtenden des neuen israelischen Kinos. Quer durch alle Genres und Tonlagen trifft man auf Menschen, die die Zerrissenheit ihres Landes nicht weiter ertragen können und das Weite suchen. Sie fliehen aus einer Gesellschaft, die sich ihrer selbst nie sicher war und ist. Sie brechen aus aus Kibbuz, Militär und Familie und verlassen Strukturen, die im nationalen Selbsterhalt erstarrt sind.
Seit seinen Anfängen hat das israelische Kino eine radikale Kehrtwendung vollzogen. Dominierte zu Beginn ungebrochene Aufbruchstimmung, erzählen die Filme nun von Stagnation und Lethargie. Auf Kinobildern, die vor sechzig Jahren, also kurz nach der Staatsgründung entstanden, strahlen Menschen im ungebrochenen Optimismus. Sie glauben an die Idee eines israelischen Staates und setzen sie mit bloßen Händen um. Die ersten Filme aus dem noch jungen Staat - wie etwa "Hem Hayu Assareh" - "Es waren zehn" aus dem Jahre 1960 - sind zionistische Manifeste, die den Westernmythos in den Nahen Osten verlegen. Junge Pioniere ziehen in ein scheinbar unberührtes Galiläa. Stolzen Hauptes beackern sie die neuen Felder, bedienen voller Schwung den Pflug. Die Kamera schwingt sich in die Totale auf und gibt den Blick frei auf einen Zukunft versprechenden Horizont.
Mittlerweile sind diese Felder von Stacheldraht durchzogen und von Wachtürmen umstellt. Auch die Gemeinschaft ist zerrüttet. Von der Schließung eines Kibbuz erzählt Jonathan Paz Film "The Galilee Eskimos", dessen Drehbuch er gemeinsam mit dem Autor und Theaterregisseur Joshua Sobol schrieb. Alles beginnt mit einer Massenflucht. Frohen Mutes und mit Sack und Pack verlassen die Bewohner ihren Kibbuz, sie wollen ihr Glück außerhalb versuchen, haben Grund und Boden an Spekulanten verkauft. Vergessen und allein bleiben nach der Räumung nur die Insassen des Seniorenheims zurück. So kommt eines schönen Morgens nicht das Frühstück, sondern ein Bagger angerollt, der ihr Land und ihr Lebenswerk zerstören will. Die Entfremdung zwischen den Generationen nimmt der Film als Ausgangssituation, verloren sind bei ihm jedoch nur die Alten.
"The Galilee Eskimos" ist in der Gegenwart angesiedelter Geschichtsunterricht. Ohne die Idee des Kibbuz zu verklären, darf die Gründergeneration noch einmal ihre Ideen und Mythen verteidigen. Jonathan Paz zeigt sie als verschrobene Bande, die, im Rollstuhl und mit Krückstöcken bewaffnet, noch einmal den alten Kampf- und Pioniergeist zitiert und sich gegen die sonnenbebrillten Banker zur Wehr setzen wird. Für ihr Schicksal findet Paz tragikomische Bilder: In Reih und Glied ruht sich die Truppe auf Sonnenstühlen aus, die Kamera fährt hoch, man sieht sie in einem Pool ohne Wasser sitzen.
Wesentlich schonungsloser fällt die Abrechnung mit der Kibbuz-Ideologie in dem Film "Sweet Mud" aus, der nächste Woche in deutschen Kinos startet und in den Siebzigerjahren spielt. Der Regisseur Dror Shaul zitiert die hoffnungsfrohen Bilder der Fünfzigerjahre, wenn er seinen halbwüchsigen Helden mit einem Fahrrad über Felder und Hügel rasen lässt. Der zwölfjährige Dvir erfreut sich an seiner Bewegungsfreiheit, bekommt aber immer deutlicher zu spüren, dass sie letztlich nur in einem vorgegebenen Rahmen ausgelebt werden kann. Schon in der Wiege lag sein Leben fest in der Hand der Gemeinschaft.
In seinen besten Momenten erinnert "Sweet Mud" an ein absurdes Marionettentheater. Wenn sich die Kibbuz-Bewohner zur Vollversammlung treffen, können sie sich nicht von ihrer starren Kollektivpolitik lösen. So wird darüber debattiert, ob Dvirs Mutter von ihrem Freund aus der Schweiz besucht werden darf. Da er nicht arbeiten wird, werden zwei Wochen Aufenthalt als Abstimmungsgrundlage angeboten. Die öffentliche Diskussion ist demütigend für die junge Frau, weil ihre psychische Angeschlagenheit zu Argumentationszwecken eingesetzt wird.
Militärischer Kommandoton als Weckruf, fabrikmäßig vorgewärmte Babyflaschen, festgelegte Besuchszeiten zwischen Eltern und Kindern, lächerliche Initiationsriten auf dem Weg zum Erwachsenenwerden - immer, wenn dieser Film das individuelle Drama im Alltag eines streng reglementierten Lebens sucht, entwickelt er eine klaustrophobische Enge. Kein Wunder, dass in seinem Helden der Wunsch nach Ausbruch wächst. Während Dvirs Eltern in den Freitod beziehungsweise in die psychische Krankheit flüchteten, schneidet er in einem Gewaltakt die Fäden durch. Es ist der Abschied vom Leben als Marionette im großen Kollektivtheater.
In einer ganz anderen Art von Tour de Force wollen auch die jungen Menschen in Yoav Shamirs "Flipping Out" ihren jüngsten Erfahrungen entkommen: Fern von Kontrolleinsätzen an Checkpoints und Mauern, fern von der Angst zu töten oder getötet zu werden, fern vom permanenten Ausnahmezustand bedröhnen sich junge israelische Soldaten und Soldatinnen in Nordindien mit Drogen aller Art, sobald sie ihren Militärdienst absolviert haben. Hoch oben in den Bergen sitzen sie vor Wasserpfeifen, genießen eine Aussicht ohne Stacheldraht und Wachtürme und tanzen die Nächte durch. In seinem Dokumentarfilm, der auf der diesjährigen Berlinale im Internationalen Forum lief, beobachtet Yoav Shamir junge Israelis beim Versuch, sich vom Israelisein zu erholen. Doch die wenigsten scheinen sich zu entspannen. Erst nach der Militärzeit dringen die traumatischen Erlebnisse aus dem Gazastreifen oder dem Westjordanland in ihr Bewusstsein vor. Manche Exsoldaten werden darüber verrückt, nicht wenige leiden an psychotischen Schüben.
Es hat eine unfreiwillige Ironie, dass der israelische Staat dem Flipping-out-Symptom nicht vorbeugen kann, dafür aber umso routinierter mit der Nachversorgung ans Werk geht. Shamir filmt therapeutische Auffangzentren in Nordindien, Orthodoxe, die Gesprächsrunden anbieten, und einen ehemaligen Mossad-Agenten, der die besonders schweren Fälle einsammelt. Selbst in der Ferne verliert Israel seine Schäfchen nicht aus den Augen.
Auch er wird von seiner Heimat immer wieder eingeholt: Schon vor vielen Jahren zog Moshe nach Manhattan. Seine Frau und den kleinen Sohn ließ er in Israel zurück. In Amos Kolleks neuem Film "Restless" geistert er durch New York, als wandelnde Metapher für all die Flüchtenden des neuen israelischen Kinos. Und doch bleibt Moshe ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein selbst ernannter Lebenskünstler, Frauenverführer und erklärter Deserteur der Idee Israel. Nachts trägt Moshe auf Hebräisch zornige Gedichte in Nachtklubs vor.
Durch Parallelmontage verknüpft Kollek die Welt des Getriebenen in den New Yorker Häuserschluchten und die seines Sohns, der mittlerweile als Soldat in der Wüste Libanons stationiert ist. Amos Kollek, Sohn des langjährigen Jerusalemer Bürgermeisters Treddy Kollek, lebte selbst jahrelang in den USA. "Restless" ist eine exzessive Reise ins Herz eines Vater-Sohn-Konflikts, ein verzweifeltes Kreisen um die Frage, wo man als Israeli zu leben habe. Moshe und sein Sohn haben ihr Leben in die Sackgasse manövriert. Beide und auch der Film wissen keine Antworten. Vielleicht liegt in Moshes lapidarer Bemerkung eine Wahrheit über Israel, dieses Land, das so viele Kinofiguren nur noch lieben können, indem sie es fliehen: "Alles, was ich wollte, war Moshe retten."
"Sweet Mud". Regie: Dror Shaul.Mit Tomer Steinhof, Ronit Yudkevitch u. a.Israel/Deutschland/Frankreich/Japan 2006, 97 Min., Filmstart: 7. August
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