Neues Buch von Dietmar Dath: Die Erben der Aufkärung
Dietmar Dath und Barbara Kirchner erklären uns in "Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee" die Weltrevolution. Viel zu verdanken haben sie Ernst Bloch.
FRANKFURT/MAIN taz | Der Journalist, Pop-Philosoph und Schriftsteller Dietmar Dath und die Chemieprofessorin Barbara Kirchner haben zusammen ein Buch geschrieben, das den Rahmen des Gewohnten sprengt. Aber bevor Leserinnen und Leser das merken, sind sie schon auf einer strapaziösen Reise.
Dabei erfahren sie allerhand, auch über Abgelegenes - die Urhorde, die siliziumlebendigen Xümerls auf dem Planeten Gikhna im Hysenstirz System und andere Welttatsachen, aber auch vieles aus Fantasy und Science-Fiction. Bevor man sich in den Nischen des Buches verliert, sollte man dessen Kern betrachten.
Dath/Kirchner verstehen ihr Buch als politisches Buch - nicht als wissenschaftliche Monografie oder philosophischen Traktat. Der Anspruch, der sich schnell als Understatement herausstellen wird, lautet: "Es geht uns allein darum, ein paar Aussichten und Ansichten zu bündeln, die man im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert häufiger zu sehen und zu hören bekam als heute, von denen wir aber meinen, dass man sie bald wieder brauchen wird."
Die Autoren gehen davon aus, dass mit der Frühaufklärung im 17. und der Aufklärung im 18. Jahrhundert eine "intellektuelle Kriegsmaschine" erfunden wurde, die der alten, feudal-obrigkeitsstaatlich-klerikal geprägten Welt den Garaus machte und die bürgerliche Emanzipation in Gang setzte.
Mit der Aufklärung wurde "sozialer Fortschritt" als denkbar und machbar begriffen. Damit verloren Ungleichheit und Ungerechtigkeit - menschliches Leiden überhaupt - die letzte (theologische) Rechtfertigungsbasis. Radikale Kapitalismuskritik also, statt schnöseliger Apologie.
Das "Nochnichtgedachte"
Heute, so der sympathische Schluss aus der These von Dath/Kirchner, geht es darum, das Erbe der Aufklärung zu bewahren, vor allem aber das Unabgegoltene darin - das "Nochnichtgedachte", "Nochnichtgelebte" der Aufklärung - nach dem Stand des Wissens und der materiellen Ressourcen zu verwirklichen.
In einem Satz: Es geht den Autoren um "das Explizitmachen des Übersehenen". Das Mögliche, aber Übersehene nennen die Autoren im Anschluss an Paul Valéry "Implex", was man auch Implikation oder Implikatur oder -mit Ernst Bloch - "Vorschein" nennen könnte.
Wen das Programm von Dath/Kirchner an die Philosophie Ernst Blochs (1885-1977) erinnert, liegt richtig. Wie dessen "Prinzip Hoffnung" lehnen sich Dath/Kirchner an die Theorien von Marx und Engels an. Im Gegensatz zu diesen behandeln sie aber Ernst Bloch, dem sie viel mehr verdanken, als sie an nur drei Stellen deutlich machen, nur am Rand. Doch das ist nur der geringste aller Mängel und hybriden Pirouetten.
Erstens: Der Buchumfang ist zahlreichen Wiederholungen geschuldet. Das gilt für die geradezu schulmäßige Repetition von Merksätzen und Lehrbuchversen aus der Marxschen Theorie ebenso wie für den Dauerrefrain zum Los von "Zurückgesetzten, Übervorteilten und Benachteiligten" oder für das Referieren historischen Handbuchwissens.
Zweitens: Wo Dath/Kirchner ihre Thesen mit historischem Material unterfüttern, verfangen sie sich in Vereinfachungen und Pauschalisierungen. Bei der Darstellung geschichtlicher Prozesse bevorzugen die Autoren den Schweinsgalopp und übersehen dabei manches - etwa wenn sie der deutschen Aufklärung pauschal ein Defizit an gesellschaftlicher Einsicht unterstellen.
Sicher war die schottisch-englische Aufklärung in soziologischer und ökonomischer Hinsicht fortschrittlicher und radikaler als deutsche Pendants, aber die auf gerade einmal drei Seiten entwickelte These, in Deutschland hätten seit dem 18. Jahrhundert Naturkategorien wie "Rasse" oder "Geschlecht" das Denken bestimmt statt soziologische Kategorien wie "Klasse", ist eine grobianische Verkürzung.
Diese lebt von Vorstellungen, die mehr der "Wucht des Manifestschreibergestus" (Dath/Kirchner) als soliden historischen Kenntnissen zuzuschreiben sind. Das gilt auch für die Meinung, "in Deutschland" gehöre "das Wort ,Klasse' exklusiv den verbohrtesten unter den verbliebenen Marxianerinnen und Marxianern". Das kann nur jemand behaupten, der die Sozialgeschichtsschreibung einfach nicht kennt, wie sie sich in der BRD - nach 1968 - herausgebildet hat.
Drittens: Die Ungereimtheiten bei der Präsentation des historischen Materials durch Dath/Kirchner wiederholen sich auf theoretischer Ebene. Bei der Diskussion über den Klassenbegriff zitieren sie - unter dem Fanal "ad fontes" - Lenin mit einer Klassendefinition von 1919. Lenin beurteilt Klassen "nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion" und "nach ihrem […] Verhältnis zu den Produktionsmitteln".
Das ist weder falsch noch überholt, nur etwas allgemein und berechtigt nicht zum hechelnden Eifer, den Soziologen Pierre Bourdieu, der Lenin haushoch übertrifft bei der Analyse der Spaltung der Gesellschaft in Klassen, als "Lebensstil- und Geschmacksanalytiker" abzufertigen und sein Werk als "Begriffsbudenzauber".
Viertens: Je länger man in dem Buch liest, desto gravierender werden die Mängel. Wer sagt, sozialer Fortschritt sei möglich, handelt sich ein diffiziles Problem ein. Dath/Kirchner wissen das und diskutieren nichts intensiver als das Problem, dass aus analytischen Sätzen logisch direkt keine normativen folgen: Aus der Tatsache, dass jemand eine Frau ist, folgt nicht, dass sie Kinder gebären muss.
Abstrakter gesagt: Logisch resultiert aus dem Sein kein Sollen: "No ought from an is" - so David Hume. Das tangiert auch Marx These, wonach es eine Klasse gibt, die ein objektives Interesse daran hat, das System der Klassenherrschaft zu überwinden. Damit ist nicht ausgemacht, wer, wann und unter welchen Bedingungen dazu fähig und bereit ist.
Weichgespülte Variante
Dath/Kirchner kennen die höchst komplexen philosophischen Debatten über Humes Gesetz und setzen sich mit den Philosophen von Wittgenstein über Quine bis zu Davidson, Grice, Ryle, Rawls, Rorty, Habermas, Luhmann, Brandom und vielen andren auseinander - alle erhalten gleich mehrfach Bescheide ihres Ungenügens.
Am besten kommt noch Marx weg, der das Problem geschichtsphilosophisch "löste", indem er der revolutionären Klasse autoritativ den geschichtlichen Auftrag zuschrieb, das Klassensystem zu überwinden. Aber solcher spekulativen Geschichtsphilosophie trauen heute nicht einmal mehr Spätleninisten.
Dath/Kirchner entscheiden sich deshalb für eine weichgespülte Blochsche Variante: "Marx folgert aus dem, was ist, nicht das, was sein soll, sondern das, was sein kann." Dieses Ausweichmanöver über den Möglichkeitsmodus ist seit Aristoteles geläufig, aber nach wie vor umstritten. Denn auch der Schluss vom Sein auf das Seinkönnen ist dem Sein fremd und völlig vom Wollen abhängig: Ob aus einem Granitblock eine Gartenmauer wird oder eine Statue hat mit dem Stein nichts zu tun.
Die Widersprüche einer Ableitung des "Noch-Nicht" aus dem Sein löste schon Ernst Bloch nicht, aber Dath/Kirchner räumen dieses Problem rhetorisch mit großer Geste ab: Sie verzaubern das Wollen unter der Hand in ein Sollen und behaupten forsch, die englische Dichterin Anna Laetitia Barbauld (1743-1825) habe den Schlüssel längst gefunden.
"Das Implizite explizit machen"
Den Schlüssel für den Übergang "des aufgeklärten zum Klassenbewusstsein", woran Bacon, Descartes, Spinoza, Voltaire, die französischen Materialisten auf der einen und Marx, Engels, Rosa Luxemburg und Lenin auf der anderen Seite scheiterten.
Das ist hochstaplerisches Imponiergehabe: Dath/Kirchner wissen, dass es jemanden braucht, der "das Implizite explizit macht", aber sie können auf 800 Seiten keinen benennen, der logisch dafür zuständig ist. Das kürzeste Kapitel - eine einzige Seite! - ist dem Thema "Wen braucht eine Revolution?" gewidmet. Eben noch auftrumpfend, reden sich Dath/Kirchner auf den Gemeinplatz heraus wie schon der sprichwörtliche Hahn auf dem Mist mit seiner Wetterprognose, Revolution sei eben "eine Frage des Zeitpunkts".
Fünftens: Das Verstummen im Ernstfall kompensieren sie mit hohlem Pathos. Mit Verfassungen, "Sozialstaatskrempel" usw. geben sich Dath/Kirchner nicht ab. Sie vertrauen auf die Postille Konkret und deren Gewährsleute Wolfgang Pohrt, Hermann L. Gremliza & Co. und landen beim tantenhaften Kitsch zwischen "echter Politik" und "schöpferischer" Verbesserung von "alten Analysen" und "Erkenntnisfenstern".
Sechstens: Neben Hochstapelei und Pathos tritt die bohemienhafte Apologie von Terror, und das macht das Buch, das am Anfang radikale Kapitalismuskritik versprach, zum apologetischen Ärgernis: Angeblich bahnten 1789 wie 1917 "verbliebene Reste angestammter […] oder quislinghafter […] Feinde der Revolution […] Bürgerkrieg und Terror […] den Weg" und nicht etwa die Revolutionäre selbst.
Das ist nur einfältige Geschichtsklitterung. Wie Robespierre 1793/94 verklärte Lenin 1922 den Terror als Staatsdoktrin: "Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen, sondern ihn prinzipiell, klar, ohne Falsch und Schminke begründen und gesetzlich verankern". - Neben solchen Abstürzen erscheint die verquaste Syntax des Buches als mindere Zumutung: Schachtelsätze von 35 Zeilen gehören dazu.
Dietmar Dath/Barbara Kirchner: "Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee". Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 880 S., 25,99 Euro
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