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Neuer Roman von Donna TarttGottes Sinn für schwarzen Humor

Donna Tartt löst immense Begeisterung aus, sie wird verglichen mit Charles Dickens. Ihr Roman „Der Distelfink“ entwickelt große Sogwirkung.

Das ist er: Carel Fabritius' Distelfink von 1654. Bild: Carel Fabritius, via Wikimedia Commons

In der Frick Collection war die Hölle los. Die Massen stürmten das New Yorker Museum, als die Ausstellung mit niederländischer Malerei aus dem 17. Jahrhundert eröffnet wurde. Doch die Besucher drängelten sich nicht etwa vor allem um das berühmteste Bild der Schau, „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ von Jan Vermeer, sondern waren fast noch begieriger, ein anderes Gemälde zu sehen. „Der Distelfink“ von Carel Fabritius, einem vergleichsweise unbekannten, jung verstorbenen Delfter Künstler, war der heimliche Star der Ausstellung.

Der Grund: Am Tag der Ausstellungseröffnung im vergangenen Oktober war in den USA auch der lang erwartete Roman von Donna Tartt erschienen. Der heißt nicht nur „Der Distelfink“, sondern weist dem Bild von 1654 eine tragende Rolle zu. Das zeitliche Zusammentreffen war zwar, so versicherten Verlag und Ausstellungsmacher, reiner Zufall, zur Folge hatte sie aber trotzdem eine kleine Völkerwanderung.

„Der Distelfink“ ist, das lässt sich nun, da auch die deutsche Übersetzung erschienen ist, feststellen, ein kommerzieller Erfolg. Ist er auch ein literarischer? Dem scheint so zu sein, die Rezensionen sind allesamt euphorisch. Vom Kollegen Stephen King wird Donna Tartt in der New York Times gar mit Charles Dickens, ihrem erklärtem Vorbild, verglichen.

Tatsächlich: Die Geschichte von Theodore Decker, der im Alter von 13 Jahren seine Mutter bei einem Bombenattentat in einem New Yorker Museum verliert, im allgemeinen Chaos nach dem Anschlag das titelgebende Gemälde mitgehen lässt, in Las Vegas bei seinem Hallodri-Vater landet, Freundschaft mit einem seltsamen Russen schließt, einen Haufen Drogen nimmt, zurück in New York zum halbseidenen Antiquitätenhändler wird und schließlich sogar in Amsterdam in eine Schießerei mit einer Gangsterbande verwickelt wird, entwickelt eine solche Sogwirkung wie sonst nur besonders clever konstruierte Seifenopern.

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Tartt verweigert sich dem Medienrummel

Es scheint aber auch nicht ganz unwahrscheinlich, dass ein Gutteil der immensen Begeisterung für „Der Distelfink“ auch auf seine Entstehungsgeschichte zurückzuführen ist. Schließlich ist das Buch erst das dritte von Tartt in mehr als zwei Jahrzehnten. Schon bevor 1992 ihr Debüt erschien, galt sie als literarische Sensation. Ihr Studienkollege Bret Easton Ellis, damals gerade eine große Nummer wegen seines „American Psycho“, machte so ausdauernd Werbung für Tartt, dass sie für „Die geheime Geschichte“ einen Vorschuss von sagenhaften 450.000 Dollar kassieren konnte.

Der Roman über eine Gruppe von Latein-Studenten an einem College in New England, die einen der ihren ins Jenseits befördern und darüber ihre Freundschaft zerstören, machte Tartt zum Star. Die aber verweigerte sich fortan Literaturbetrieb und Medienrummel. Die wenigen Fotos, die von der mittlerweile 50-Jährigen existieren, zeigen eine alterslose Schönheit, die Haare zu einem strengen Bob frisiert. Und in den wenigen Interviews, die sie gibt, gesteht sie, das Internet nach Möglichkeit zu ignorieren.

Als die geheimnisumwitterte Autorin dann – nach ihrem nicht ganz so gelungenen Zweitling „Der kleine Freund“ von 2002 – zurückgezogen mehr als zehn Jahre an ihrem dritten Roman schrieb, immer neue Gerüchte von Schreibblockaden in Umlauf kamen, das Buch angekündigt und für gescheitert erklärt wurde, stiegen die Erwartungen ins Unermessliche.

Dass „Der Distelfink“ diese übersteigerte Erwartungshaltung nicht enttäuscht hat, zeigt schon, welch packendes Buch Tartt geschrieben hat. Zwar ist der Roman bei mehr als tausend Seiten Länge bisweilen geschwätzig, wird bei einer Busreise quer durchs Land jeder währenddessen verspeiste Roastbeef- und Truthahn-Sandwich aufgezählt. Es werden Metaphern aufgetürmt, bis sie bisweilen verrutschen zum „Schneesturm der Faszination“. Auch die Figurenzeichnung ist nicht immer gelungen, vor allem Möbelrestaurator Hobie, der das Waisenkind Theo aufnimmt, überschreitet in seiner Gutherzigkeit bisweilen die Grenze zum Kitsch.

Eine emotionale Odyssee

Aber das sind Kritteleien. „Der Distelfink“ lässt einen nicht mehr los. Nicht nur, weil Tartt mit dem gestohlenen Gemälde geschickt einen klassischen MacGuffin im Zentrum ihrer Erzählung platziert. Nicht nur, weil sie den Thriller ebenso beherrscht wie den Bildungsroman oder die Konventionen des Buddy-Movie. Sondern nicht zuletzt, weil sie mit großer Meisterschaft die emotionale Odyssee ihres Protagonisten, psychologische Fragen und moralische Wertediskussion miteinander verwebt.

Nicht nur das Motiv des Waisenkindes erinnert an Dickens, den Tartt als junge Mitarbeiterin einer Stadtbücherei komplett verschlang und den sie würdigt, indem sie eine ihrer Figuren Pippa nennt, eine Fusion aus Pip und Estella in „Große Erwartungen“. Auch der epische Aufbau und der genaue Blick auf die sozialen Bedingungen erinnern an den großen Moralisten. So wird „Der Distelfink“ auch zum Sittenbild eines Post-9/11-Amerika, porträtiert Tartt das an der eigenen Arroganz scheiternde alte Geld in Manhattan ebenso wie den verlorenen amerikanischen Traum in den Episoden in Las Vegas.

Im Mittelpunkt aber steht der allein und orientierungslos durchs Leben treibende Theo. Der an der Schuld, die Überlebende fühlen, zu zerbrechen droht und nicht lieben kann, weil er nicht gelernt hat, sich selbst zu lieben. Ihrem Helden und seinen verschlungenen, meist ihm selbst am wenigsten verständlichen Lebenswegen folgt Tartt mit denkbar großer Sympathie, um die Bedeutung von Verlust und Unschuld, Trauer und Freundschaft ebenso zu erforschen wie jene Frage, die uns doch alle umtreibt: Würfelt Gott oder besitzt Schicksal bloß einen Sinn für schwarzen Humor?

Das Buch

Donna Tartt: „Der Distelfink“. Aus dem Englischen von Rainer Schmidt und Kristian Lutze. Goldmann, München 2014, 1.024 Seiten, 24,99 Euro.

Aber wahrscheinlich gibt es nur den Zufall. Das muss wohl so sein, wenn selbst ein Erscheinungsdatum und die dazu passende Ausstellungseröffnung auf denselben Tag fallen.

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