: Neue Schulen, verletzte Seelen
AUS BESLAN KLAUS-HELGE DONATH
„Ich fahre!“, sagt Susanna Dudijewa, halb trotzig, halb unentschlossen. „Gehen wir nicht, haben wir unsere Chance für immer vertan“, meint die Vorsitzende des Mütterkomitees von Beslan und schaut unsicher in die Runde. Fast ein Jahr haben die Mütter darum gekämpft, von Präsident Wladimir Putin gehört zu werden. Sie haben geschrieben, demonstriert und Straßen blockiert und letzte Woche ein Gericht besetzt. Moskau stellte sich taub. Zwei Dinge wollten die Frauen dem Kremlchef sagen: Er trage Mitschuld am Tod ihrer Kinder und er sei zur schonungslosen Aufklärung verpflichtet.
Bei der Geiselnahme in der Schule Nummer 1 in Beslan vor einem Jahr starben nach einer dilettantischen Befreiungsaktion 330 Geiseln, unter ihnen 186 Kinder. Klarheit haben die Ermittlungen bisher nicht gebracht. Justiz, Ermittler und Geheimdienst erwecken den Eindruck, als sei ihnen mehr daran gelegen, ihr Versagen zu vertuschen. Überlebende zweifeln an der offiziellen Version. Nur 32 Terroristen sollen beteiligt gewesen sein? Wie konnte eine schwer bewaffnete Bande in die Stadt gelangen? Und die quälendste Frage: Warum wurde mit schweren Waffen auf die Schule geschossen, als alle Geiseln noch darin waren?
Eine Woche vor den dreitägigen Gedenkfeiern kam aus Moskau die Nachricht, Wladimir Putin bestelle die Frauen in den Kreml. Ausgerechnet am 2. September, dem Tag, an dem der Brauch es vorschreibt, an den Gräbern zu wachen. Die Frauen sind sich einig: Der Kreml hat sie verhöhnt, gedemütigt und das Komitee der Mütter vor eine Zerreißprobe gestellt. „Gehen wir nicht“, meint Susanna Dudijewa, „kann sich der Kreml herausreden.“ Das Thema wäre für Moskau erledigt. Andere Mütter fürchten, Moskau werde das Treffen propagandistisch nutzen. „Ich will Putin aber ins Gesicht sagen, dass er am Tod meines Sohnes schuldig ist“, sagt Susanna. Notfalls gehe sie allein.
Bisher war das Komitee eine eingeschworene Gemeinschaft. Die Frauen sitzen in einer zum Büro umfunktionierten Einzimmerwohnung in Schulnähe. Sie planen, organisieren und bereiten sich auf die Gerichtsverhandlung vor, die gegen den einzigen überlebenden Terroristen, Nurpaschi Kulajew, in Wladikawkas stattfindet. Das Leid hat sie stark gemacht. Politiker in der Kaukasusrepublik Nordossetien können sie nicht ignorieren, wie sonst in Russland üblich. Die Tragödie hat den Müttern ein moralisches Recht verliehen, das selbst eiskalte Politiker zuhören lässt. Niemand käme auf die Idee, Kundgebungen der Frauen zu verbieten.
Das Trauma bleibt
Einigen scheint das nicht zu behagen. Regelmäßig tauchen Flugblätter auf, die Susanna Dudijewa nach dem Muster diskreditieren, sie oder die Mütter hätten ihr Leid zu Geld gemacht. Mal ist es eine Wohnung in Moskau, mal sind es Geschäfte in Wladikawkas, die ihr zugeschoben werden. „Vernichten kann uns niemand. Wir lassen uns auch nicht aufhalten, weil wir nichts mehr zu verlieren haben“, sagt sie.
Die Stadt hat das Trauma noch nicht verarbeitet. Eine unheimliche Atmosphäre liegt über der 30.000-Einwohner-Stadt, die so herausgeputzt ist. Moskau stiftete zwei neue Schulen nach dem letzten Stand der Technik. 40 Angestellte sind dort beschäftigt, sie auf Vordermann zu halten. Russlands Sparkasse, die Sberbank, lässt einen Sportkomplex errichten. In Sichtweite des Friedhofs für die Terroropfer entsteht ein medizinisches Zentrum, das in Russland seinesgleichen sucht.
Das sind Äußerlichkeiten.
Nach der Geiselnahme standen die Menschen zusammen und halfen einander, meint Kasbek Missikow. Er war mit seinen beiden Söhnen und seiner Frau auch unter den Geiseln. „Im Laufe des Jahres hat sich das geändert“, erzählt Missikow und massiert die linke Hand, in der er seit dem Anschlag kein Gefühl mehr hat. Monatelang wurde der 44-Jährige mit der Familie in Moskau behandelt. Sie alle sind heute Invaliden.
Auch sie haben gelitten, aber die Missikows sind mit dem Leben davongekommen. „Wer überlebt hat, geht jetzt eigene Wege.“ Lange sei es schwierig gewesen, mit den Hinterbliebenen zu reden. Scham sei es von seiner Seite gewesen. Aber auch ein schlechtes Gewissen, noch am Leben zu sein. Vielleicht hätte er doch noch mehr Kinder vor dem Tod bewahren können, sagt der ehemalige Russischlehrer leise. Diese bedrückende Stimmung – Schuldgefühle und Schuldzuweisungen – haben den Zusammenhalt der Einwohner untereinander beeinträchtigt. Hilfe von den Verantwortlichen kam nicht, die Opfer wurden sich selbst überlassen. Nachts im Traum sehe er immer noch Gliedmaßen durch die Luft fliegen. Dass keine moralische Hilfe geleistet wurde, hält Missikow nicht nur für eine Unterlassung unbeholfener Politiker. Er vermutet Kalkül dahinter; Emotionen, die trennen statt verbinden, haben verhindert, dass sich eine gemeinsame Front gegen die korrupte politische Kaste bilden konnte. Korruption erleichtert den Terroristen im Kaukasus das Geschäft. Die Entschädigungen trafen diesmal zwar unbürokratisch und schnell aus Moskau ein, doch bei Kasbek Missikow hinterließen sie einen bitteren Nachgeschmack: „Wollte Moskau sich freikaufen und das Kapitel so schnell wie möglich schließen? Ich glaube es fast“, sagt er.
Eine Milliarde Rubel (etwa 30 Millionen Euro) regneten auf Beslan nieder. Das weckte Missgunst und Begehrlichkeiten. Die Opfer standen materiell plötzlich besser da als diejenigen, die verschont geblieben waren. Das Leid wurde vergessen.
Wer lebt, wird angefeindet
Nicht nur Kasbek Missikow klagt an, auch Jelena Kasumowa, die stellvertretende Direktorin der Schule Nummer 1: „Es war schlimmer als die Tage in der Schule“, sagt die hochgewachsene, dunkelhaarige Lehrerin, die als Geisel mit ihrem Sohn in der Schule ausharrte. „Weder Politiker noch Beamte haben sich seither nach unserem Befinden erkundigt“, erzählt sie, „wir mussten damit allein fertig werden.“ Von 40 Lehrern der Schule starben bei der Geiselnahme 19. „Wer gerettet wurde und noch lebt, wurde angefeindet.“ Von den toten Lehrern wird behauptet, sie hätten ihr Leben für das der Kinder geopfert, die übrigen seien Feiglinge. Die 73-jährige Direktorin wurde gar verdächtigt, mit den Terroristen gemeinsame Sache gemacht zu haben. Sie legte das Amt nieder. Auf offener Straße beschimpft zu werden, das mussten sich die Lehrer oft gefallen lassen. Davor hat Jelena Kasumowa noch immer Angst, auch wenn es ruhiger geworden sei. Dennoch tritt sie nicht als Zeugin im Prozess gegen Kulajew auf. „Ich fürchte mich vor den Aggressionen.“
Die frischen und glatten Fassaden können nicht über das Trauma hinwegtäuschen. Politiker in Wladikawkas glauben nun, ein Gegenmittel gefunden zu haben: Sie forderten die Beslanerinnen auf, Kinder zu gebären, wenn nicht anders möglich, auch mit Hilfe künstlicher Befruchtung.
Jelena Rubajewa und Larissa Kudsijewa haben erst spät im Mai mit der Arbeit im neuen Rehazentrum begonnen. Die beiden Psychologinnen schütteln mit dem Kopf. „Wie kann man Frauen, die ihr Leid noch nicht verarbeitet haben, in eine Schwangerschaft treiben?“
Die Nachfrage nach psychologischer Betreuung hält sich indes in Grenzen. 150 Betroffene haben sich in drei Monaten gemeldet, im Vergleich zu den 1.130 Geiseln sind das wenig. Fünf Männer waren darunter, erzählt Rubajewa. „Besonders kaukasische Männer glauben, alle Probleme selbst lösen zu können.“ Hauptsächlich Frauen und Kinder suchen Rat. Phobien und Ängste quälen vor allem die Kinder, die sich zu Hause einschließen und nicht wieder in die Schule gehen wollen.
Ein riesiges Problem, das die Psychologinnen immer häufiger beobachten, sind Familien, die nach dem Tod der Kinder auseinander brechen. Viele Beziehungen seien zerrüttet und endeten mit dem Griff der Männer zur Flasche. Die Familie Musajew hatte auch so ein Problem. Der Vater konnte viele Kinder aus der Schule retten, die eigene Tochter aber nicht. Seine Frau machte ihm Vorwürfe. Sie haben den Konflikt inzwischen ausgetragen, Dutzende Familien schaffen das nicht, fürchten die Betreuerinnen.
Kasbek Missikow ist wieder guter Dinge. Sie haben sich für ein neues Kind entschieden, seine Frau ist schwanger. Missikow verfolgt auch ein neues Geschäftsprojekt. Einen Schießstand mit angeschlossener Schule. „Wer im Kaukasus lebt, muss sich zu wehren wissen“, sagt er. Seine Kinder schickt er erst zehn Tage nach Schulbeginn in die neue Schule. „Ich traue dem Frieden immer noch nicht!“