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Neue Gewalt in der TürkeiZwei Tote, viele Fragen

Bei neuen Zusammenstößen erleidet ein Polizist einen Herzinfarkt. Ein junger Mann wird erschossen, womöglich aus den Reihen der Demonstranten.

11 Jahre Erdogan – 11 Jahre zu viel scheinen die Demonstranten sagen zu wollen. Bild: dpa

BERLIN taz | Im Anschluss an die Demonstrationen für den 15-jährigen Berkin Elvan sind am Mittwoch in der Türkei zwei Menschen ums Leben gekommen. In der kurdisch-alevitischen Stadt Tunceli (Dersim) in Ostanatolien erlitt der 30-jährige Polizist Ahmet Küçüktağ einen Herzinfarkt und starb in einem Krankenhaus. In Istanbul starb am späten Abend der 22-jährige Burak Can Karamanoğlu, offenbar infolge einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Teilnehmern des Trauerzugs und einer anderen Gruppe. Die genauen Umstände sind in beiden Fällen noch nicht bekannt.

Hayati Yılmaz, der Polizeipräsident der Provinz Tunceli schrieb auf Twitter, dass der verstorbene Polizist in einem gepanzerten Fahrzeug saß und dort einen Herzinfarkt erlitt. Den bisherigen Erkenntnissen zufolge sei Küçüktağ nicht direkt Tränengas ausgesetzt gewesen. Ein paar Stunden zuvor hatte derselbe Polizeipräsident für Aufmerksamkeit gesorgt, weil er getwittert hatte: „Besser zerstörte Scheiben als zerstörte Menschenleben.“

Ob der tote Polizist ein Herzleiden hatte, ist bislang nicht bekannt. Im Zuge der Gezi-Proteste seit Ende Mai vorigen Jahres starben bereits vier Menschen durch die Einwirkung des Tränengases; alle litten an Herzproblemen. Die Türkische Stiftzung für Menschenrechte und die Türkische Ärztekammer werfen der türkischen Polizei vor, in exzessiver Weise Gebrauch von chemischen Kampfstoffen zu machen.

Unklar sind auch die Umstände, unter denen der junge Mann im Stadtteil Okmeydanı starb – jenem Armenviertel ein paar Kilometer vom Taksimplatz entfernt, wo auch Berkin Elvan mit seinen Eltern gelebt hatte und wo er, nachdem er Mitte Juni von einer Tränengaspatrone der Polizei am Kopf getroffen wurde, neun Monate lang im Koma lag.

Wie die Nachrichtenagentur Doğan berichtet, gehörte Burak Can Karamanoğlu zu einer teilweise mit Knüppeln bewaffneten Gruppe, die sich am Abend vor einer Moschee sammelte und „Allahu akbar“ („Gott ist groß“) rief – die Agentur ist Teil des Doğan-Medienkonzern, dem unter anderem die Tageszeitungen Hürriyet und Radikal und die Fernsehsender CNN Türk und Kanal D gehören.

Zwischen der Gruppe vor der Moschee und einer anderen, die in der Nähe des Elternhauses von Berkin Elvan wartete, sei es zu einer Schlägerei gekommen, dann seien Schüsse gefallen. Karamanoğlu wurde offenbar erschossen, zwei weitere Personen wurden mit Schussverletzungen ins Krankenhaus geliefert. Der Vorsitzende der Istanbuler AKP-Organisation, Aziz Babuşcu, war am Mittwochabend der erste, der Angaben zur Person des Getöteten machte und darauf hinwies, dass sich in diesem Moment keine Polizeikräfte am Ort des Geschehens befunden hätten.

„Drei Hunde verletzt“

Auf Twitter kursiert der angebliche Screenshot eines Tweet der linken Organisation Halk Cephesi („Volksfront“), die als legaler Arm der auch in Deutschland als terroristisch eingestuften DHKP-C gilt: „Die idealistischen Faschisten greifen an, sie bekommen die notwendige Antwort. Drei idealistische Hunde sind verletzt.“ Der Original-Tweet ist nicht mehr auffindbar. „Idealisten“ (ülkücü) ist die Eigenbezeichnung der ultranationalistischen MHP, in Deutschland auch als Graue Wölfe bekannt. Deren Anhänger hatten sich vereinzelt an den Gezi-Protesten beteiligt. Anderen Darstellungen zufolge handelte es sich bei der Gruppe, in der sich auch Burak Can Karamanoğlu aufgehalten haben soll, um AKP-Anhänger. Wieder andere Quellen bezeichnen ihn als Mitglied des Fußballfanclubs Kasımpaşa 1453. Kasımpaşa ist das Viertel, in dem Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan aufgewachsen ist; die Anhänger gelten als AKP-nah. Die „Volksfront“ hat eine offizielle Stellungnahme angekündigt.

Bereits gegen Ende des zunächst friedlichen Trauerzugs in Istanbul war es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten gekommen, die sich bis zum späten Abend hinzogen. Viele der zehntausenden Teilnehmer waren nicht bis zum Friedhof im Stadtteil Feriköy durchgekommen. Die Menge wartete in Osmanbey und begann dann, sich in Richtung des Taksimplatzes zu bewegen. Daraufhin setzte die Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Plastikgeschosse ein – der Taksimplatz wie der benachbarte Gezi-Park sind seit dem Sommer eine Art verbotener Zone, in der die Behörden keinerlei politische Versammlung dulden.

Ein Teil der Demonstranten warf daraufhin Steine und Feuerwerkskörper auf die Polizei. Mehrere AKP-Büros wurden gestürmt und verwüstet; aus Wahlkampfmaterial und Möbeln wurden brennende Barrikaden errichtet. Übereinstimmenden Augenzeugenberichten zufolge war es die größte Demonstration seit der Räumung des Gezi-Parks. Viele Teilnehmer berichten, dass die Polizei noch gewalttätiger vorgegangen sei als in den vergangenen Monaten.

Aus insgesamt knapp 30 Städten wurden am Mittwoch Proteste gemeldet; in einigen Städten wie Tunceli, Ankara, Izmir und Adana kam es zu Zusammenstößen. Im Netz kursieren Videos, die den Eindruck eines besonders brutalen Vorgehens der Polizei zu bestätigen. Auch in Berlin, Hamburg und einigen weiteren europäischen Städten gab es Solidaritätsdemonstrationen.

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3 Kommentare

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  • wenn eimer glaubrt, er durchblicke die "schleier" der durchtriebenheiten der türkischen repression, irrt er sich UND WENN ER BIS NACH CHINA GEHT...

  • T
    tim

    ja friedliche demonstranten, die akp-anhänger erschießen und sich dessen auch noch rühmen.

    • B
      Bire
      @tim:

      Lieber Tim,

      offensichtlich hast du dich etwas verlesen, wenn du das geschilderte Vergehen mit den Millionen Demonstrierenden in Verbindung bringst, die unter massiver, unbeschreiblicher Polizeigewalt leiden, obwohl sie sich doch nur nach Demokratie sehnen und dabei beeindruckend ruhig bleiben. Diese Diskreditierung von Menschen aller Altersklassen, die für letztlich einzig und allein die Meinungsfreiheit auf türkischen Straßen ihr Leben aufs Spiel setzen, kann ich leider nur als ekelhaft bezeichnen.

       

      Und danke an die taz für die nun ausführliche Recherche!