: Nervöse Stimmung vor der Vertretung
■ Als Automechaniker getarnte Stasi-Spitzel, notizenmachende Stadtstreicher und mißtrauische Ostberliner: Vor der ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin tut jedeR so, als sei man zufällig in der Nähe / Schimpfe über die Ausreisewilligen: „Die blockieren alles“
Die Ständige Vertretung der BRD in Ost-Berlin zieht in diesen Tagen nicht nur westliche Journalisten magnetisch an. Vertreten sich im Innern des Gebäudes in der Hannoverschen Straße mittlerweile 131 DDR-Ausreisewillige hinter verschlossenen Türen die Beine, so müssen sich Ostberliner und andere Passanten mit einem Pappschild am vergitterten Eingang zufriedengeben: „Die Ständige Vertretung kann vorübergehend leider keine Besucher empfangen. Sie können sich schriftlich oder telefonisch - Ruf Nr. 2805101 an uns wenden.“
Vor der so verschlossenen westdeutschen Enklave ist von der fieberhaften Suche nach Lösungen des Platzproblems in der Ständigen Vertretung so gut wie nicht zu spüren. Wie üblich stehen mehrere VoPos (Volkspolizisten) vor dem Gebäude. Als Automechaniker getarnte Staatssicherheitsbeamte machen sich zufällig gegenüber dem Bundesadlerwappen über einen klapprigen Trabbi her. Auch der Stadtstreicher an der Ecke sieht nicht so aus, als trinke er nur zum Spaß sein Bier mit Aussicht auf die Behörde der Bundesrepublik. Zu eindeutig sind seine Blicke und zu offensichtlich die Notizen, die er sich von Zeit zu Zeit macht.
Arglos schlendert ein Pärchen an dem Bürobau vorbei. Eine junge Frau tut es ihnen gleich. Sie macht jedoch plötzlich vor dem Pappschild am Eingang halt. Blitzschnell zieht sie Papier und Bleistift aus ihrer Handtasche und notiert sich die angegebene Telefonnummer. Danach trippelt die platinblonde Berlinerin weiter und tut so, als sei nichts gewesen. Was sie sich von der ständigen Vertretung erhofft, will sie nicht verraten. Das angeborene Mißtrauen gegen Fremde, die zudem noch Fragen stellen, steht ihr ins Gesicht geschrieben. Wer ist ein Spitzel und wer nicht?
Wesentlich gesprächsbereiter zeigen sich da schon die Stammkunden eines benachbarten Cafes, in der sich die westorientierte Szene Ost-Berlins trifft. In dem plstikbestuhlten Interieur ist das Thema „Flucht in die Ständige Vertretung“ in aller Munde - still wird es nur, sobald der schniecke Ober mit dem Mokka heranrauscht. Keineswegs wohlwollend fallen die Kommentare über die BesetzerInnen der Ständigen Vertretung aus. „Das brodelt hier mittlerweile ganz gut“, beschreibt ein kritischer DDR -Bewohner die Atmosphäre, die momentan unter denjenigen herrscht, die sich eine Ausreise auf dem formalen Wege erhoffen. „Die Besetzung der Ständigen Vertretung hat mal wieder Wellen geschlagen, die wahrscheinlich die Bearbeitung aller Ausreiseanträge vorerst blockieren“, meinte der junge Ostberliner und nippt an seiner Ost-Kola. Schließlich habe sich das schon vor fünf Jahren gezeigt. Damals hatten sich 50 DDR-Bürger in die Bonner Behörde geflüchtet, die daraufhin für drei Monate geschlossen worden war. „Das sich dieser Staat mit solchen Methoden nicht erpressen läßt, hat sich doch schon tausendmal gezeigt“, erklärt auch ein anderer DDR-Kritiker resigniert zu der Flucht seiner Landsleute in die Ständige Vertretung. Er fürchtet ebenfalls, daß in Aussicht stehende Reiseerleichterungen und damit verbundene Westreisen auf die lange Wartebank geschoben würden. „Wenn die Glück haben, werden deren Ausreiseanträge vielleicht schneller bearbeitet als normal. Aber das ist so, als wenn sich jemand an der Warteschlange vorbeischlängelt und vorne wieder einreiht“, argumentieren sie nicht ohne Neid und immer darauf bedacht, daß ihre Außerungen nicht am Nachbartisch mitgehört werden. Kritik üben die beiden hinter vorgehaltener Hand auch an der Berichterstattung der westlichen Medien: „Die haben die Botschaftsbesetzung in Ungarn dermaßen hochgekocht, daß schon fast abzusehen war, daß hier was Ähnliches passiert.“ Schließlich hörten die ausreisewilligen Leute auschließlich West-Radio. „Unter den Besetzern sind welche, die einen Ausreiseantrag am Laufen hatten und jetzt ein Visum für Ungarn haben wollten“, so einer der beiden Ostler. Das werde denjenigen jetzt aber normalerweise verweigert. Begründung: „Gefahr einer kriminellen Handlung“ - was die amtsdeutsche Umschreibung für „fluchtgefährdet“ ist.
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