: Neonazi-Mordserie ungelöst
Am 2. September debattiert der Bundestag über den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zur NSU-Mordserie. Dessen Bilanz ist widersprüchlich: Der Ausschuss hat wertvolle Aufklärungsarbeit geleistet. Doch mit seinem Abschlussbericht legt er einen Deckel auf den noch ungelösten NSU-Komplex
von Thomas Moser
Eine Serie von mindestens zehn Morden an neun türkischen und griechischen Männern sowie einer deutschen Polizeibeamtin zwischen 2000 und 2007. Dazu Sprengstoffanschläge mit vielen Verletzten. „Wie konnte es passieren, dass eine rechtsextremistische Terrorgruppe mitten in Deutschland lebte, ohne von den Behörden gestellt zu werden?“ Diese Frage sollte der Ausschuss untersuchen. Der Abschlussbericht nun – über 1.300 Seiten – ist ein Dokument voller Widersprüche. Der Ausschuss weiß mehr, als er erklärt. Doch er weiß andererseits weniger, als er vorgibt: Weil er von den Behörden nicht alle Akten bekam. Weil Akten in dreistelliger Zahl vernichtet wurden. Oder weil er überfordert war, die Masse der Unterlagen zu bewältigen. Aus Thüringen wurden 1.700 (!) Akten des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) nach Berlin geschickt. Eine Unterkommission sichtete sie – und das war's. Was die Kommission entdeckte oder auch nicht, weiß niemand. Der Ausschuss hat mit diesen Akten nicht mehr gearbeitet.
Die Ausschussmitglieder bekamen auf viele Fragen keine Antworten, weil Zeugen Erinnerungslücken vorschoben oder die Unwahrheit sagten, wie die Ex-LfV-Präsidenten Thomas Sippel (Thüringen), Helmut Rannacher und Johannes Schmalzl (beide Baden-Württemberg). Falsche Zeugen sind vor dem Ausschuss erschienen, so zwei Polizeibeamte aus Köln. Andererseits hat der Ausschuss selbst eine Reihe von Zeugen nicht vorgeladen.
Wissenslücken totgeschwiegen
Es wäre die erste Pflicht des Ausschusses gewesen, sich zu seinen Wissenslücken zu bekennen. Doch damit hätte er gleichzeitig die Unmöglichkeit parlamentarischer Kontrolle der Exekutive eingestanden und sich in gewisser Weise selbst in Frage gestellt. Stattdessen erweckt er nun den falschen Eindruck, was er wisse, sei das, was man wissen könne.
Im Abschlussbericht ist zu lesen, „dass sich keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben haben, dass irgendeine Behörde an den Straftaten, die der Terrorgruppe ,Nationalsozialistischer Untergrund` (NSU) zur Last gelegt werden, in irgendeiner Art und Weise beteiligt war, diese unterstützte oder billigte.“ Um das zu behaupten, muss man beispielsweise verneinen, dass Ralf Wohlleben, einer der fünf Angeklagten in München, V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) war. Wohlleben war der entscheidende Kontaktmann zum Trio. Der Fall Wohlleben ist ein Schlüsselfall für das Terrornetzwerk NSU und die Rolle des Verfassungsschutzes: Der Bundesanwalt Hans-Jürgen Förster hatals Zeuge im Ausschuss beteuert, 2002 auf einer Liste des BfV mit V-Leuten in NPD-Vorständen den Klarnamen „Wohlleben“ gesehen zu haben. Die Liste habe sich laut Bundesinnenministerium (BMI) nirgends gefunden.
Bei über 300 im BfV vernichteten Akten besagt das aber gar nichts. Der Zeuge Förster blieb, obwohl von seiner Behörde, vom BMI und auch im Ausschuss unter Druck gesetzt, bei seiner Beobachtung. Er zählte sogar fünf Personen aus dem Innenministerium namentlich auf, die bei der Auswertung dieser Liste dabei gewesen sein sollen. Doch der Ausschuss hat diese Zeugen nie vorgeladen.
Dann das Beispiel neunter Mord im April 2006 in Kassel: Am Tatort, einem Internetcafé, hielt sich zur Tatzeit der Beamte des LfV Hessen, Andreas Temme, auf. Warum, was er wahrnahm, weshalb er sich nach dem Mord nicht bei der Polizei meldete und sogar der Fahndung entzog – das ist bis heute nicht aufgeklärt. Der hessische Innenminister Volker Bouffier untersagte die Vernehmung von V-Leuten Temmes. Trotzdem spricht der Ausschuss Temmes vom Verdacht einer Verstrickung frei.
Nicht etwa windige Verschwörungstheoretiker, sondern seriöse Kriminalbeamte aus Thüringen meinen bis heute, das untergetauchte Trio sei vom Landesverfassungsschutz geschützt und unterstützt worden. Im Juli 2012 verkündete der FDP-Obmann im Ausschuss, Hartfrid Wolff, das BfV habe Beate Zschäpe als V-Frau anwerben wollen. Der damalige Noch-BfV-Präsident Heinz Fromm und Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) widersprachen heftig.
Doch stark ein halbes Jahr später erklärt der letzter Zeuge des Tages, ein früherer Quellenanwerber des LfV Thüringen, vor dem Ausschuss: Das Amt habe vorgehabt, Zschäpe anzuwerben. Warum dann darauf verzichtet worden sein soll, ist bis heute weder klar noch plausibel. Die Abgeordneten fragten nicht nach und entließen den Zeugen praktisch mitten in der Vernehmung.
Kein einziger V-Mann als Zeuge geladen
Eine der wichtigsten Personen, auf die der Untersuchungsausschuss stieß, ist Thomas Richter, der auf der Namensliste von Mundlos steht. Anfang der 90er Jahre wurde er Mitglied einer Neonaziorganisation. Kurz darauf diente er sich als Polizeispitzel an. Er wurde als Informant an ein Landesverfassungsschutzamt weitergereicht und landete bald beim BfV, wo er 18 Jahre lang, bis 2012, als V-Mann tätig war, Deckname „Corelli“. In dieser Zeit wurde er Mitglied des deutschen Ku-Klux-Klan. Er hatte Kontakt zum Trio. Im Bericht des Ausschusses taucht er verklausuliert nur als Quelle „Q 1“ auf.
Richter wird vom BfV verborgen gehalten. Der Ausschuss hat ihn nicht als Zeugen angefordert. Wie überhaupt keinen einzigen V-Mann und keine einzige V-Frau. Das war einer seiner grundlegendsten Fehler. Man wolle Neonazis keine Bühne geben, so die Begründung, was aber nicht zwangsläufig so sein muss. Außerdem: Ist eine Figur wie Richter/Corelli in erster Linie Neonazi oder VS-Mitarbeiter? Indem er V-Leute nicht befragte, hat sich der Ausschuss selber eines wesentlichen Beweismittels beraubt.
Zwei entscheidende Befunde kristallisierten sich im Untersuchungsausschuss heraus – der eine so alarmierend wie der andere. Zum einen die kaum zu fassende Erfolglosigkeit der Behörden bei der Fahndung nach den dreien von 1998 bis 2011. Und zum zweiten dann die Vertuschungsversuche und Behinderungen des Ausschusses durch eben diese Behörden danach, 2012 und 2013. Sie erreichen mittlerweile kriminelles Niveau.
Rätselhaft bleibt der Polizistenmord von Heilbronn
Täter, Umstände und Motiv des Mordes an der Polizistin Michelle Kiesewetter sind weiterhin komplett unklar. An der von der Bundesanwaltschaft (BAW) behaupteten Täter- beziehungsweise Alleintäterschaft von Mundlos und Böhnhardt gibt es begründete Zweifel. Der Anschlag in Heilbronn wirft besonders deutlich die Frage auf, ob das NSU-Trio Teil einer größeren Organisation war.
Der Ausschuss konstatiert schwerwiegende Ermittlungsmängel, gar eine Behinderung der Polizei durch die Staatsanwaltschaft und räumt ein, entscheidende Fragen seien offengeblieben. Umso unverständlicher, dass er die Sicht der BAW sowohl hinsichtlich der Täter als auch des Motives übernimmt, nämlich: Es habe sich um einen Anschlag gegen Staatsorgane gehandelt.
Im Ausschussbericht findet sich aber auch Neues, nämlich weitere Spuren des NSU in Baden-Württemberg. Sie gehen über das hinaus, was im Bericht von Landesinnenminister Reinhold Gall über die Verbindungen der Terrorgruppe nach Baden-Württemberg steht, den der SPD-Minister Ende Juli vorgelegt hat: Die im Brandschutt in Zwickau gefundenen Stadtpläne von Heilbronn, Ludwigsburg und Stuttgart waren erst ab 2003 im Handel. Es fand sich beim Trio ein Personalausweis eines Sascha J., der in Neudenau ausgestellt worden war, eine Krankenversichertenkarte eines Maik S. aus Laupheim oder Kontaktdaten eines Reinhard S. aus Geislingen.
Im Oktober 2011 erhielt Zschäpe eine SMS von einem Handy, das in Stuttgart zugelassen war. Ein Mitläufer der rechten Szene soll ein gemeinsames Treffen von NSU und einer Gruppierung namens „Neoschutzstaffel“ (NSS) in Öhringen erwähnt haben. Das habe von den Ermittlern bisher allerdings nicht verifiziert werden können. Alles in allem Sachverhalte, die dem Gall-Ministerium aus den Ermittlungsakten eigentlich bekannt sein müssten und die belegen, wie lückenhaft sein Bericht ist
Inzwischen stellen sich noch ganz andere und grundlegendere Fragen: Was war der NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) eigentlich? Was wollte er? Wer gehörte alles dazu? War das Trio Teil einer größeren Organisation? Sie sind nicht im Ansatz beantwortet.
Was war der Wert dieses Ausschusses? Interessierte wissen nun, wo sie suchen müssen! Eine Vielzahl von Spuren führt unwiderlegbar und nachhaltig zu Verfassungsschutzämtern, vor allem denen in Thüringen, Sachsen, Baden-Württemberg, Hessen, Brandenburg, Berlin sowie dem BfV. Daneben zum MAD und auch zum BKA. Letzteres ist vor allem verantwortlich dafür, dass die Mundlos-Namensliste nie ausgewertet und nie für die Fahndung benutzt wurde.
Der Untersuchungsausschuss war nicht gewollt
Der Ausschuss drohte vor allem für den NSU-Prozess in München zur Hypothek zu werden. Er hätte zwangsläufig das Augenmerk immer wieder auf die mögliche wie tatsächliche Verstrickung von V-Leuten in die Morde gerichtet. Das versuchen nun an seiner Stelle die Opferanwälte vor dem OLG in München und geraten darüber in Dauerkonflikt mit der Bundesanwaltschaft, die das verhindern will. Bemerkenswerterweise mit der Formel: Das Gericht sei kein Untersuchungsausschuss. Es soll keinen geben – in München nicht und auch nicht in Berlin.
Obwohl einstimmig im Bundestag eingesetzt, war der Ausschuss von der Bundesregierung und dem Sicherheitsapparat der BRD nie gewollt. Über Monate hinweg, vor allem im Herbst 2012, herrschte ein regelrechter Machtkampf zwischen diesem Organ der parlamentarischen Demokratie und der Exekutive. Deren Widerstand gegen die Aufklärung trägt bis heute Züge eines permanenten verdeckten kleinen Staatsstreiches.
Letztendlich ist der Ausschuss aber politisch gescheitert, sprich: an den Parteien, die die Sicherheitsinstitutionen gewähren ließen.