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Neoliberalismus ohne EndeAus Fehlern lernen

Immerhin wird derzeit klar: Um die weltweite Finanzkrise zu lösen, muss die Menschheit in ihren politischen Gemeinwesen koordiniert handeln.

Gemeinsam aus der Finanzkrise lernen. Bild: dpa

Madonna, diese virtuelle Ausgeburt der Medienwelt, verspricht: a real girl. Der gegenwärtige, weltweit herrschende Kapitalismus verspricht - langfristig - wirklichen Reichtum für alle. Wie die gegenwärtige Finanzkrise zeigt, in der eine gigantische "Entwirklichung" von Geld stattfindet, das eben nur virtuell gewesen war, war dieses Versprechen nicht glaubwürdig.

Friedrich August von Hayek hat uns nicht belogen. Er hat uns auch nichts versprochen. Er hat nicht behauptet, dass das, was er die Marktwirtschaft nennt, gut ist. Er hat uns nur versichert, dass die Menschheit in ihrer langen Evolution noch nichts Besseres hervorgebracht hat. Die gegenwärtige Finanzkrise zeigt zweierlei: Erstens fasst sie all die ungelösten globalen Probleme zu einem großen Problemkomplex zusammen, der einheitlich danach ruft, mit "frischem Geld" als wirklicher cash value befriedigt zu werden, wie dies nur noch die Regierungen und Notenbanken "schaffen" können.

Zum anderen macht die gegenwärtige Finanzkrise aber auch überdeutlich, dass dies bestenfalls nur eine Zwischenlösung sein kann: Denn wenn es nicht gelingen sollte - was sehr unwahrscheinlich ist -, diesen neu geschaffenen Geldwert mit in einem neuen Konjunkturaufschwung zu unterfüttern, dann wird das zu einer großen Inflation führen. Also die Wertvernichtung würde sich von den Banken und den Börsen in die Portemonnaies aller verlagern (und vermutlich dabei noch einmal erheblich ausweiten).

Nachdem sich eine Wirklichkeit, die des Finanzsystems, als bloß virtuell erwiesen hat, hat die Suche nach "wirklichen Werten" allererst begonnen.Damit erledigt sich gleichsam en passant die postmoderne Illusion, in der Vielfalt der Simulakren die Frage nach der Wirklichkeit gar nicht mehr stellen zu müssen: Durch die Gewalt der Krise wird die große Vielfalt der Konzepte und Probleme geradezu gewaltsam auf die eine Frage reduziert - auf die nach wirklicher Zahlungsfähigkeit in "wirklichem Geld".

Aber erst einmal haben die Staatsregierungen gezeigt, dass ihr Wort als hinreichend vertrauenswürdig, also als "wirklich" gilt, auch nachdem die Banken weltweit das Vertrauen vor allem der anderen Banken im Wortsinne "verspielt" haben, indem sie mit "virtuellem Geld" Pyramidenspiele organisierten, bei denen zunächst sehr gut verdient werden konnte, nur - wie immer bei solchen betrügerischen Spielen - dann diejenigen die Zeche zahlen, die nicht rechtzeitig wieder ausgestiegen sind.

Dass das Wort der Banken nicht mehr ohne weiteres gilt, sondern jetzt die Staaten das letzte Wort haben, bedeutet als solches noch nicht das Ende des Neoliberalismus, keineswegs. Nur ganz oberflächlich ging es dem Neoliberalismus um eine bloße Marktgesellschaft, in der sich alles bloß über Verkauf und Verkauf, über Angebot und Nachfrage reguliert.

Der Staat, der mit Polizei, Militär und Notenbank die Eigentumsverhältnisse und das Geld garantiert, in dem sie sich verwirklichen, sind ganz offenbar Bestandteil derselben "evolutionär gefundenen" Institutionenkonstellation, auf die uns seit Maggie Thatcher die Politik als alternativlos verweist. Ich erinnere nur an die Prügel-Bobbies, die 1985 den britischen Bergarbeiterstreik zerschlagen haben, und an den von Thatcher angezettelten Krieg um die Malwinen, die sich ihr Land als Kolonie hält, unter dem Namen der Falklandinseln.

Müssen wir daraus den Schluss ziehen, jetzt trete die Macht der Staaten als die wirkliche Macht in den Vordergrund, nachdem die Blase des bloß virtuellen Geldes geplatzt ist und die Banker ihre darauf begründete Macht über ihre Kunden verloren haben? Dann wären staatliche Repression und neue Kriege zur exklusiven "Sicherung" der Voraussetzungen für die Produktion "wirklicher Werte" die schwer zu vermeidende Konsequenz.Das muss aber keineswegs sein. Es ist sogar nicht besonders wahrscheinlich.

Denn trotz peak oil und anderer sich dramatisch zuspitzender Rohstoffprobleme liegt die zentrale Herausforderung für die Ökonomie der starken Staaten (zu den Deutschland zweifellos gehört) nicht in der Sicherung eines monopolistischen Zugriffs auf Rohstoffquellen, sondern in der Bewältigung des bevorstehenden weltwirtschaftlichen Konjunkturabschwungs.

Auch für die Bewältigung der Finanzkrise hilft es den USA nicht, dass sie sich militärisch den Zugriff ihrer Ölindustrie auf die Ölquellen des Irak gesichert haben. Was helfen würde, sind allein politische Maßnahmen zur Streckung und Stärkung des gegenwärtig noch gerade so anhaltenden weltweiten Booms. Hier zeigt sich die Achillesferse der gegenwärtigen Rückwendung auf die Nationalstaaten als Akteure letzter Instanz. Denn genau das können sie für sich allein nicht (wie dies zuletzt die Konjunkturprogramme der ersten Mitterand-Regierung Anfang der 1980er-Jahre gezeigt haben, die die Konjunktur vor allem in Deutschland, aber nicht so sehr in Frankreich belebt haben).

Die USA haben das unter Reagan und Clinton noch ein letztes Mal fertigbekommen - um den Preis einer gigantischen Verschuldung erst der öffentlichen Hand und dann auch der privaten Hände. Aber das ist jetzt offenbar vorbei. Und die starken Nationalstaaten, auf deren Wort jetzt vor allem gehört wird, sitzen offensichtlich nicht in den richtigen Kreisen zusammen, um noch abgestimmt wirksam politisch handeln zu können, wie dies kürzlich das Hornberger Schießen der G 7 gezeigt hat: Ohne China, ohne Indien lässt sich die Weltkonjunktur nicht mehr stabilisieren.

Schon die Eindämmung der Finanzkrise wird nicht möglich sein, wenn es nicht zu einem abgestimmten Handeln aller wirklich wichtigen Staatsregierungen kommt.Dafür reicht es jedenfalls nicht, aufmerksam auf die Marktsignale zu lauschen, sondern es müssen bewusste politische Entscheidungen getroffen werden: Welche Banken sind wirklich "systemrelevant" und daher rettungsbedürftig? Welche Gegenleistungen können und müssen die Staatsregierungen für ihre Rettungsaktionen verlangen? Welchen Einfluss können und müssen sie auf das Geschäftsgebaren der geretteten Banken nehmen?

Welches Maß an Staatsverschuldung ist jetzt ökonomisch sinnvoll? Wie weit muss die Liquidität der Banken auf dem Umweg über eine Stützung der Massenkaufkraft gefördert werden? Welchen Stellenwert müssen Zukunftsinvestitionsprogramme im "Instrumentenkasten" der Staatsregierungen zur Bewältigung der gegenwärtigen Weltfinanzkrise haben?

Denn eines ist klar: Wenn es wirklich gelingen soll, die gegenwärtige Finanzkrise zu bewältigen, dann müssen nicht nur Antworten auf alle diese Fragen gefunden werden, ohne einzelne davon doktrinär vorab ausschließen zu können - sondern diese Antworten müssen vor allem auch in verlässlichen Formen der Kooperation innerhalb der Staatenwelt verankert werden, die ein perspektivisch belastbares abgestimmtes und gemeinsames Vorgehen der Staatsregierungen auf eine Weise in Aussicht stellen, die Vertrauen erweckt.

Das ist aber völlig unvorstellbar, wenn nicht zugleich die großen Probleme angegangen werden, vor denen die Menschheit steht, wie sie "Erdgipfel" der 1990er-Jahre immerhin thematisiert hatten - Welthunger, Zerstörung der Biodiversität, Klimakatastrophe, weltweite Verslumung, Energiequellen- und Rohstoffklemmen und so fort.

Es wird also nicht reichen, mit einer Art von Basel III die Architektur des Weltfinanzsektor noch einmal zu verbessern und die Weltkonjunktur so weit zu stabilisieren, dass ein "langer Boom" wie in den 1990er-Jahren zustande kommt. Die wirklichen Probleme der Menschheit müssten angegangen werden, damit wirklich wieder Vertrauen gewonnen werden kann. Davon ist bisher aber gar keine Rede. Das fällt auf.

Der Grund hierfür liegt leider auf der Hand: In der hayekanischen Wirtschaftsordnung, der sich die Menschheit aufgrund der neoliberalen Konterrevolution seit den 1980er-Jahren angenähert hat, geht es einfach nicht um die wirklichen Probleme der Menschheit, sondern um die Kapitalrendite. Die Versicherung, dass allein dadurch indirekt auch die wirklichen Probleme gelöst werden, lässt sich nicht begründen. Sie erhebt nur Anspruch auf Glauben - als eine "Zivilreligion" beziehungsweise "wissenschaftliche Weltanschauung" unserer Zeit.

Wenn die Menschheit ohnehin bereits in ihren politischen Gemeinwesen gemeinsam und koordiniert wird handeln müssen, um die Finanzkrise glimpflich bewältigen zu können - und dies schon gar wird leisten müssen, um nicht anschließend den Preis einer anhaltenden Kombination von Inflation und Stagnation zu bezahlen -, dann könnte sie ja ebenso auf den Gedanken kommen, auch im Hinblick auf ihre drängenden wirklichen Probleme politisch zu handeln, statt weiter auf die Wirkung der "Marktinstrumente" zu warten.

Das wäre - auf der internationalen Ebene, auf der heute die Finanzkrise die Probleme gewaltsam zusammenfasst - der Einstieg in eine Verfasstheit der "politischen Ökonomie der Menschheit", die nicht mehr hayekanisch bestimmt wäre. Und es würde die Frage realitätstüchtig machen, warum wir nicht auch im Inneren unserer politischen Gemeinwesen nach Formen des institutionalisierten demokratischen Handelns suchen, unsere wirklichen Probleme als Menschen und als BürgerInnen zu lösen, ohne vor Marktmechanismen zu kapitulieren.

Denn etwas Besseres als die Schrecken einer neoliberalen "Krisenbewältigung" wird die Menschheit doch finden können. Auch wenn ihr dies bisher noch nicht gelungen ist: Als Menschen können wir doch aus Fehlern lernen - und eben auch einsehen, dass es zwar nicht möglich ist, von der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise zu erwarten, dass sie der Menschheit dauerhaft wirklichen und nicht bloß virtuellen Reichtum bringt, dass es aber auch Alternativen zu dieser Herrschaft gibt, die noch zu finden sind.

Der Autor, geboren 1943 in Kiel, ist Politikwissenschaftler und Philosoph und lehrt an der FU Berlin. Von 1994 bis 1999 war er für Bündnis 90/Die Grünen Mitglied des Europäischen Parlaments. Zuletzt erschien von ihm (mit Gerd Peter): "Welt ist Arbeit. Im Kampf um die neue Ordnung". Westfälisches Dampfboot, Münster 2008.Auch wenn es bislang nicht gelang: Etwas Besseres als die Schrecken einer neoliberalen Krisenbewältigung wird die Menschheit doch finden können!

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