Negativer Kinsey

■ Hetero-Sex heute: Gebändigt, entzaubert, karg. Der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt skizziert vor dem Hintergrund der aktuellen Gewaltdebatte den Weg zum ratifizierten Sexualverhalten - mehr "Verhandlungsmoral" im...

Herr Schmidt, in einem Ihrer jüngsten Aufsätze sprechen Sie von einer „Entsexualisierung heterosexueller Verhältnisse“. Woran machen Sie dieses Phänomen fest?

Gunter Schmidt: Es hat in den letzten Jahren eine Reihe von Studien über das Sexualverhalten von Männern und Frauen in den westlichen Industriestaaten gegeben – in den USA, Frankreich, Großbritannien –, die bei aller Unterschiedlichkeit zeigen, daß die sexuellen Beziehungen zwischen Männern und Frauen außerordentlich karg sind. Viel karger, als man immer dachte, oder es einem auch immer vorgespiegelt wird. Mein Kollege John Gagnon aus den Vereinigten Staaten hat es so formuliert: Heterosexuelle seien „sexuell sehr inaktiv“.

Ist das etwas, über das man traurig sein müßte? Es klingt fast ein wenig nach dem jüngst verstorbenen Aufklärungsveteranen Ernest Borneman, der ja auch beklagte, daß heutzutage so wenig koitiert würde wie noch niemals in der Weltgeschichte ...

Na ja, das ist mir zu dramatisch. Wichtig ist die große Diskrepanz zwischen den Vorstellungen der Leute darüber, was abläuft oder ablaufen sollte, und dem, was tatsächlich abläuft. Insofern stehen diese Studien in der großen aufklärerischen Tradition der Kinsey-Erhebungen vor vierzig Jahren. Damals waren Männer und Frauen sehr erleichtert zu sehen, meine Güte, es machen ganz viele das, was ich mir eigentlich auch wünsche oder schlechten Gewissens tue.

Die aktuellen Studien haben einen negativen Kinsey-Effekt. Viele sind erleichtert zu sehen, daß allgemein so wenig und so wenig Exotisches praktiziert wird, wie das bei ihnen selbst der Fall ist. Es wird die Diskrepanz deutlich zwischen der sexualisierten äußeren Welt und der bescheidenen sexuellen Praxis. Wie Günther Anders einmal gesagt hat, eine Welt, „die mit Nacktheit verkleidet ist“. Wir können keinen Schritt tun, ohne mit irgendwelchen Sexualreizen konfrontiert zu werden, die zwar noch als solche gemeint sind, aber gar nicht mehr als solche wirken.

Ist diese bescheidene Praxis neu? Hat sich da etwas herunterentwickelt?

Das ist außerordentlich schwer zu sagen. Es gibt aber Hinweise darauf, daß Sexualität insgesamt gelassener, entzauberter und auch pragmatischer gesehen wird. Wenn man genau hinsieht, spielt die Sexualität im Leben vieler – vor allem heterosexueller – Menschen nicht mehr eine so große Rolle, sie bewegt nicht mehr so, wie das mal der Fall gewesen ist. Das zeigt sich auch im klinischen Setting, in der Beratung und Behandlung sexueller Störungen. In unsere Abteilung kommen sehr viel mehr Frauen und Männer als früher, mit der Klage: „Ich habe keine Lust“. Ich habe den Eindruck, daß die Sexualität in Zukunft eine relativierte Bedeutung haben wird. Daß sie eine sehr gebändigte Angelegenheit wird, sehr vernünftig organisiert. Wo es auch nicht so wichtig ist, wenn sie mal nicht stattfindet. Die Übersexualisierung der Umwelt soll dies verschleiern und verleugnen.

Sie sprechen auch davon, daß eine bestimmte Art von Erotik heutzutage anstößig zu werden drohe. Was droht anstößig zu werden und warum?

Wir erleben eine deutliche Veränderung heterosexueller Beziehungen – das eine ist die Entsexualisierung, das zweite ist das Verschwinden der Sexualmoral und ihre Ersetzung durch eine Verhandlungsmoral. Beides hat sehr viel zu tun mit den neuen Diskursen über die Sexualität. Der liberale Diskurs der siebziger Jahre wird ergänzt durch einen Selbstbestimmungsdiskurs. Es wird besonders darauf geachtet, wo, wie und wann die Selbstbestimmung eines Menschen in der Sexualität verletzt wird, wie Macht und Herrschaft in die Sexualität zum Beispiel zwischen Männern und Frauen hineinspielen. Ein Feld dieses Diskurses ist die zunehmende Thematisierung sexueller Gewalt und sexuellen Zwangs.

Und das macht sich auch im Bett bemerkbar?

Die Gewaltdebatte bringt einen Bereich der Sexualität ins Bewußtsein und auch zur Darstellung, der bislang zur Seite gestellt war und an vereinzelten Delinquenten, an ausgerasteten Männern diskutiert wurde. Sie zeigt, wie verbreitet diese Gewalt ist, und hat das politische Ziel, diese Gewalt zu benennen, sie zu dämpfen, zu verfolgen und zu bestrafen, sie abzuschaffen. Unter der Hand aber verändert dieser Diskurs auch die moralischen Haltungen zur Sexualität im Alltag jeder Frau und jeden Mannes. Sexualität wird heutzutage vor allem diskutiert im Sinne von „gefährlich sein“ und „gefährdet sein“. Frauen und Männer werden sensibler gegenüber Herrschaft im Sexuellen, auch in ihren verdünnten Formen, die zunächst kaum wahrgenommen wurden.

Welche Beispiele gibt es dafür?

Nehmen wir eine eher anekdotische Geschichte, die der Studentinnen und Studenten des kleinen Colleges von Antioch in den USA. Sie haben etwas gemacht, was ich für undurchführbar halte, aber als Paradigma außerordentlich interessant finde. Sie haben in ihrer Vollversammlung einen Katalog sexuellen Anstandes formuliert. Darin steht, daß vor jeder weitergehenden sexuellen Interaktion explizit gefragt werden und verbales Einverständnis eingeholt werden muß. Vom Anfassen über das Küssen bis hin zu Petting und Koitus. Explizite Frage, explizite Antwort. Hier wird unser Weg zum ratifizierten Sexualverhalten auf den Punkt gebracht.

Und das zeigt sich – jenseits des Diskurses – auch in der Praxis?

Nicht in dieser extremen Form. Aber Sie können diese Verhandlungsmoral auf Schritt und Tritt beobachten. Ein Beispiel: Nach unserer Studie zur Jugendsexualität, die wir 1990 durchgeführt haben, und mit unserer Studie von 1970 vergleichen konnten, äußern Mädchen heutzutage selbstbewußter Wünsche, und sie setzen selbstbewußter Grenzen; und Jungen sind heute besser in der Lage, die Wünsche der Mädchen wahrzunehmen, und sie wollen und können die Grenzen respektieren. Beide wollen „vereinbarte“ Zärtlichkeit und Sexualität.

Ist das eine neue Prüderie – oder bloß der Hang zum Blümchensex?

Das Interessante an dieser Verhandlungsmoral ist, daß sie keineswegs prüde ist. Denn sie mißt sexuelles Verhalten nicht mehr an der Praktik. Ob heterosexuell oder homosexuell, ob zärtlich oder ruppig, ob außerehelich oder ehelich, ob sadomasochistisch oder normal in Anführungstrichen – das ist der Verhandlungsmoral der StudentInnen von Antioch völlig egal. Deshalb spreche ich auch vom Verschwinden der überkommenen Sexualmoral. Voraussetzung ist, daß es ausgehandelt ist. Denken Sie nur an die Fernsehfeatures, in denen Sadomasochisten in Großaufnahme versichern: Es sind Torturen, die wir beide wollen. Das heißt: vereinbarte, ratifizierte Akte mit dem Rang des Moralischen.

Also artig statt abartig?

Die Perversionen verschwinden, sie werden sozusagen zu Lebenstilen und sind als solche „okay“, wenn sie dem Prinzip der Verhandlungsmoral folgen.

Es geraten heutzutage nur noch solche sexuellen Handlungen ins Abseits, die die Verhandlungsmoral inhärent verfehlen: etwa die Pädophilie wegen des Machtungleichgewichts der Partner. Sie wird schärfer verfolgt und unnachsichtiger ausgespürt, als dies noch zehn oder fünfzehn Jahren der Fall gewesen ist.

Kommen wir noch einmal zurück zur Erotik, die anstößig zu werden droht. Diese These entspringt ja wohl einer reinen Männersicht ...

Das Bedauern über das Anstößigwerden mag sich bei Männern eher einstellen, doch so einfach und sauber läßt sich nicht einmal die sexuelle Welt geschlechtspolarisieren. Worauf ich hinaus will: Die Verhandlungsmoral bewirkt einen starken Rationalisierungsschub der Sexualität, was unbestreitbar Vorteile hat, wenn man an ihr Aggressionspotential denkt; aber sie ersetzt auch die Utopie von Leidenschaft, die heftig und auch immer waghalsig ist – waghalsig zumindest nach innen –, durch die absurde Floskel „Sexualität ist Kommunikation“. Der Begriff „Leidenschaft“ ist heute so obsolet wie der der sexuellen „Sünde“, zu dem sich nur noch die katholische Kirche in rebellischer Antiquiertheit bekennt. Vom „Begehren“ wird zwar noch gelegentlich zaghaft gesprochen, aber das ist gemessen an „Begierde“, „Trieb“ oder auch nur „Verlangen“ ein zerbrechlicher, esoterischer Begriff, schon vom Klang her. Der Selbstbestimmungsdiskurs erreicht längst unsere sexuellen Phantasien, ihre transgressiven, asozialen, aggressiven Anteile werden tabuisiert; das erotische

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Spiel mit Überwindung und Überwindenlassen, Machen und Mitsichgeschehenlassen, Hingabe und Triumph – und dem Aufdenkopfstellen der Geschlechterrollen bei diesem Spiel. Heftige und leidenschaftliche Sexualität geht nicht, ohne den anderen mal aus den Augen zu verlieren – „Penetrieren“, Überwinden von Körpergrenzen, Bemächtigung.

Also gibt es doch so etwas wie einen Verlust zu beklagen?

Einerseits empfinde ich das so, als Mann meiner Generation. Aber andererseits kann in der Folge dieser Entwicklung ja auch Neues entstehen. Vielleicht gibt es mehr Freiheiten für anderes. So wird darüber spekuliert, daß sich die Fixierung auf die Heterosexualität, aber auch auf die Homosexualität zu lockern beginnt. Oder auch ein Phänomen, das fast mehr noch zum Stichwort Entsexualisierung gehört: Viele Menschen beginnen, ihre Sexualität aus der Beziehung hinausverlagern. Nicht im Sinne einer Außenbeziehung, das wäre ist eher der Stil der siebziger Jahre. Ein Hinausverlagern zum Beispiel in die Masturbation. Nach der schon genannten US-amerikanischen Untersuchung hat bei Männern und Frauen die Neigung ganz erheblich zugenommen, die Masturbation in einer festen Liebesbeziehung als Praktik beizubehalten, als Möglichkeit selbstbestimmter, frei verfügbarer, von Regeln und Rücksichten entlasteter, heimlicher und durchaus erholsamer Sexualität. Und es gibt andere Fluchten in die Freiheit der Unverbindlichkeit, in den „designten Sex“, wie Ulla Meinecke ihn genannt hat.

Also haben Entsexualisierung und Verhandlungsmoral doch noch ihr Gutes?

Ich sehe Sie als Nebenfolgen einer gesellschaftlich überfälligen Entwicklung. Im Hinblick auf die Arbeitsteilung, berufliche wie familiäre, und die Macht der Geschlechter vollzieht sich ein Wandel der zäh, langsam und dramatisch zugleich ist und der die Individualisierungschancen von Männer und Frauen gleicher macht. Übrigens könnte hieraus ein neuer Inhalt, ein neuer Wert heterosexueller Beziehungen werden: Wie weit die Beziehung beiden hilft, Wahlmöglichkeiten verwirklichen zu können.

Ist diese Sache mit der Verhandlungsmoral nicht vielleicht doch bloß ein Phänomen, das sich auf linksliberale Mittelschichtszusammenhänge begrenzt?

Es ist, wie dies auch der Feminismus zunächst war, ein Mittelschichtsphänomen. Und es ist zunächst einmal eine Idee. Aber ich bin überzeugt, das dies auch auf andere Schichten übergeht und ich habe zwei empirische Belege dafür. Auch bei Patienten, die nicht der gehobenen Mittelschicht angehören, finden wir heute doch einen anderen Umgang miteinander bei sexuellen Problemen oder sexuellen Störungen. Wenn sexuelle Wünsche ungleich sind in einer Partnerschaft, dann reagieren Männer nicht mehr so einfach mit der Anmeldung von Ansprüchen. Die Männer sind zurückhaltender, abwartender geworden. Das ist eine andere Vorstellung von Sexualität: Sie ist nicht mehr wir früher etwas, was Mann einfach „braucht“, sondern etwas, das nur Spaß macht und lustvoll ist, wenn es beide wollen. Das andere ist unsere Jugendstudie, die – quer durch alle Schichten – zeigt, daß Mädchen heute mehr die Initiative ergreifen als früher und Jungen viel mehr akzeptieren können, zu warten. Es ist ohne Zweifel eine Pazifizierung der männlichen Sexualität zu beobachten. Und das widerspricht überhaupt nicht der tagtäglich zu beobachtenden Gewalttätigkeit von Männern gegenüber Frauen. Das sind zwei Seiten einer Medaille, die man beide sehen muß, um Sexualität heute beschreiben und verstehen zu können.

Besteht nicht zwischen beidem ein Zusammenhang?

Darüber kann man spekulieren. In unserer Jugenduntersuchung beobachteten wir bei den Mädchen, die wir interviewten – gerade 16, 17 Jahre alt –, ein starkes Ausmaß sexueller Gewalterfahrung. Dies auch mit gleichaltrigen jungen Männern, doch in der Regel waren es ältere Männer, zum Teil deutlich ältere Männer, oder es waren Vorgänge, die sich abspielten, als die Mädchen noch jünger waren – in der Pubertät oder Kindheit. Man kann einen Zusammenhang zwischen der Pazifizierung und diesen Gewalterscheinungen insofern konstruieren, als daß der Hintergrund von Entsexualisierung und Verhandlungsmoral der langsame, aber unaufhaltsame und tiefgreifende Wandel der Geschlechterverhältnisses ist. Dies führt einerseits zu einer gleichberechtigteren, ausgehandelteren Form von Sexualität zwischen Frau und Mann; andererseits sind Männer als Geschlechtswesen verunsichert. Es bedeutet den Verlust alter Privilegien und Möglichkeiten, über die Frau zu bestimmen, was dazu führen kann, daß Machoverhalten, Übergriffe und sexuelle Gewalt agiert werden – in der Tat vielleicht sogar mehr als früher. Das ist aber schwer einzuschätzen.

Wie reagieren denn ihre weiblichen Kollegen auf Ihre Thesen?

Ich lasse ja keinen Zweifel daran, daß ich dies nicht kontrovers zur Gewaltdebatte diskutieren will. Die Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt ist notwendig – und ganz und gar nicht antquiert. Es gibt aber eben auch das, was ich als Entsexualisierung und Rationalisierungsschub bechreibe. Viele Kolleginnen sagen, das ist die Männersicht, schön und gut – aber jetzt könne sich erst mal die Erotik der Frauen, die Erotik für Frauen entwickeln. Daß die Männer ihre auf dem alten Rollenverhältnis beruhende Erotik nicht mehr haben könnten, sei das Problem der Männer.

Von Pazifizierung männlicher Sexualität ist bei ihren Kolleginnen jedenfalls nicht die Rede. Carol Hagemann-White schreibt, daß „die Dynamik sexualisierter Gewalt mit dem Konzept normaler Heterosexualität durchaus verwandt“ sei. Wo ist die Grenze zwischen heftigem, aggressivem Sexualverhalten und sexueller Gewalt?

Das ist eine Frage der Definition, und die hat es in sich. Ich habe kürzlich eine Anzeige einer Uni- Frauenbeauftragten gelesen, da hieß es: „Zur sexuellen Gewalt gehören taxierende Blicke, Bemerkungen über Figur und Aussehen, Pfiffe, aufdringliche Fragen nach dem Privatleben, pornographische Bilder am Arbeitsplatz, Versprechen beruflicher Vorteile bei sexuellem Entgegenkommen, Antatschen.“ Das finde ich außerordentlich problematisch. Früher waren diese Dinge auch allesamt Verfehlungen, galten als anstößig, vulgär, erpresserisch, taktlos, unziemlich. Die Entdifferenzierung dieser Akte unter dem Begriff „Gewalt“ zielt auf die Säuberung der Welt von (unerwünschter) sexueller Aufmerksamkeit, und das ist ein militantes Ziel.

Es ist wichtig, in der Gewaltdebatte genau hinzusehen. Alle diesen Pauschalisierungen, diese ideologischen Begriffe helfen nicht, die Probleme zu lösen. Sie spielen letztlich den Verharmlosern in die Hände. Wenn man weiterkommen will, muß man einen außerordentlich schwierigen Balanceakt leisten zwischen Katastrophisierung und Verharmlosung. Das ist schwer, man selber fällt mal in den einen, mal in den anderen Abgrund. Aber wir haben ja aus der Aidsdebatte gelernt. Die war furchtbar am Anfang, auch undank der schon fast verbrecherisch zu nennenden „Berichterstattung“ des Spiegel. Da sind wir heute weiter, und dies wünschte ich mir auch in der Debatte über sexuelle Gewalt (und sexuellen Mißbrauch). Was ja keineswegs heißt, unparteiisch oder unengagiert zu sein. Interview: Hans-Hermann Kotte

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