■ Nebensachen aus Wien: Von Stempelmarken und anderen Eigenheiten
Endlich einmal wieder ausschlafen. Keine wichtigen Nachrichten, das heißt keine Anrufe, kein aktueller Artikel. Gut so, denn später kommen angeblich die Techniker der Post, um die Telefonleitung zu ersetzen, die schon seit Wochen unter Wackelkontakten leidet.
Und doch klingelt das Telefon. Jenny ist dran, eine Freundin, sie wohnt in der Nähe. Ob ich mit ihr in die Klinik fahren kann, fragt sie weinend, ein Notfall. Sie sei auf der Treppe umgeknickt, ihr Knöchel liefe blau an. Zehn Minuten später sitzen wir im Auto, Jenny mit nacktem Riesenfuß neben mir. Die Klinik ist am anderen Ende der Stadt. Grienzing. Dorthin fahren immer die Busse mit deutschen Touristen zum Heurigen. Reizende alte Häuser zwischen Weinbergen, „Schanigärten“ zum Draußensitzen.
„Paß auf die Schlaglöcher auf“, bittet Jenny und hält ihren Fuß. Jetzt nach dem kalten Winter beginnt der Asphalt an geflickten Stellen zu bröseln. Wir biegen in die Ringstraße ein, die den alten Kern der Stadt dreispurig umschließt. Prachtboulevard, Staatsoper, Burgtheater. Der Verkehr ist wie meistens kurz vor dem Kollaps. Wer hier wagt, mit einem Nicht-Wiener Kennzeichen ein Auto mit Wiener Kennzeichen zu überholen, hat verloren. „Scheißpiefke“, brüllt der Fahrer des chromglänzenden Nissan Pajero links neben mir.
Piefke heißt deutsch. Man wird hier immer gleich erkannt. Der Beamte im Meldeamt brauchte nur die ersten drei Worte von mir zu hören. „Deutscher?“ fragte er teilnahmslos, griff nach einem mehrseitigen Formular und schickte mich hinaus in den Warteraum. „Ansuchen um Ausstellung eines Lichtbildausweises für Fremde (EWR)“. Fomular ausfüllen, Paßfoto, das übliche. „Haben Sie auch Ihre Stempelmarken?“ Das ist nun tatsächlich ein österreichisches Wunderding. Erwerben kann man die Stempelmarke in der Tabaktraffik. Tabaktraffiken gibt es in Wien mehr als genug, und das braucht es auch, denn kein amtliches Formular wird ohne Stempelmarke entgegengenommen, und für jede Amtshandlung ist eine spezielle Stempelmarke nötig. Eine Stempelmarke ist fast wie eine Briefmarke, nur dünner, zerbrechlicher und deutlich mehr wert. Mein „Lichtbildausweis für Fremde“ kostet eine 120-Schilling-Marke, eine 80-Schilling- Marke, eine 20-Schilling-Marke. Und dann noch 30 Schilling, damit mein Krankenversicherungsnachweis entgegengenommen wird. Und 30 Schilling, damit die Fremdenpolizei meinen Einkommensnachweis berücksichtigt.
Jenny strahlt, nichts gebrochen. Wie ein neuer Mensch kommt sie aus der Ambulanz des Krankenhauses in den Warteraum gehumpelt, wo ich seit Stunden unter Männern sitze, deren Frauen gerade Kinder zur Welt bringen. Geruhsame Heimfahrt, kein „Piefke“-Geschrei, nur gemeinsame Freude auf den frischen Espresso gegen Mittag, ganz in Ruhe.
Daraus wurde dann nichts, denn natürlich kam doch noch ein Anruf aus der Redaktion, 120 Zeilen, ganz eilig. Und natürlich kamen die Posttechniker genau, als ich den Text nach Berlin übertragen wollte. Ausschlafen ist verschoben. Man sollte sich so was nicht vornehmen. Daniel Asche
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