Nebensachen aus Washington: „Rock The Vote“
■ Über die Werbung von NichtwählerInnen bei MTV
Aus amerikanischer Sicht und ganz streng betrachtet, ist die Aufregung um die Präsidentschaftswahlen völlig unangemessen. „Falsch“, sagt meine Freundin Clarice. „Halb unangemessen.“ Okay, halb unangemessen. Denn wenn es am 3. November so läuft wie bei den letzten Wahlen 1988, dann bequemen sich gerade mal 50 Prozent der selbsternannten Musterdemokraten zwischen Kalifornien und New York in die Wahlkabine.
Es gab Zeiten, da lag die Wahlbeteiligung bei 90 Prozent. Soviel Wertschätzung für den Stimmzettel lag unter anderem daran, daß das Wahlrecht nicht jedem in den Schoß geworfen wurde: Anfangs hatten es nur weiße, männliche Landbesitzer, Mitte des 19. Jahrhunderts dann alle männlichen Steuerzahler. Sklaven waren ergo ausgeschlossen. Afroamerikaner durften erst ab 1870 wählen. 1920 stießen Frauen in den illustren Kreis vor, ab 1924 die Ureinwohner, auch Indianer genannt. „Und 1961 wir“, fügt Clarice triumphierend hinzu. Womit sie die Bürger und Bürgerinnen der Hauptstadt Washington meint. Die dürfen seitdem zwar den Präsidenten mitwählen, aber immer noch keine Senatoren in den Kongreß entsenden.
1960, beim Rennen zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon, lag die Wahlbeteiligung immerhin noch bei 62 Prozent; seitdem ging es beständig bergab. Das formale Problem: Wenn den potentiellen Nichtwähler am Morgen des 3. November doch noch das Bedürfnis überfällt, dem Schicksal des Landes die entscheidende Wende zu geben, dann muß er registriert sein. Wer nicht bei den zuständigen Behörden für die jeweilige Wahl registriert ist, kann noch so volljährig und amerikanisch sein– die Wahlkabine bleibt zu.
Das Registrieren und Wählen vergaßen bislang vor allem die Menschen in den städtischen Ghettos, ethnische Minderheiten und der Nachwuchs zwischen 18 und 24 Jahren – Zielgruppen, die nicht zur Klientel der Republikaner gehören. Im US-Kongreß kam man schon vor Jahren auf die Idee, jeden als Wähler einzutragen, der seinen Führerschein beantragt, was im Land des Automobils im Leben (fast) aller Bürger früher oder später passiert. Präsident Bush ließ die Gesetzesvorlage per Veto in den Papierkorb wandern.
„Es nützt ihm nichts“, sagt Clarice. „MTV ist stärker.“ Soll heißen: Was Bill Clinton nicht alleine schafft und George Bush gar nicht schaffen will, besorgt MTV mit der Kampagne „Rock The Vote“ – den Jungen das Wählen schmackhaft machen.
MTV ist in meinen Augen, mit Verlaub, ein Brechmittel. Wer diese Form von geistiger Folter durch aberwitzige Schnittechnik und rhetorische Nullösung nicht mit der Muttermilch eingesogen hat, der fühlt sich nach 30 Minuten Konsum, als hätte man ihn mit einem nassen Lappen geprügelt. Wenn MTV politisch wird, dann kommt „United Colors of Benetton“ in bewegten Bildern heraus. Lebensregel für die Jungkonsumenten: Hauptsache, ihr tragt die richtigen Klamotten und kauft die CDs, die angesagt sind. Dann kommt man mit dem Rest der Welt locker klar. Die Revolte in Los Angeles ist ein Rock-Video mit viel Action, der Wahlkampf ist ein Rock-Video mit weniger Action. Die US- Army mogelt sich mit ihrem Rock-Rekrutierungsvideo immer mal dazwischen.
Bei Clarice kann man seit vier Wochen frühmorgens, mittags oder nachts zur Tür reinkommen, MTV läuft immer. Sie wartet auf den ultimativen Madonna-Wahlspot und will außerdem, daß ich mit dem Motzen über MTV aufhöre. „Der Zweck heiligt die Mittel und Madonna“, sagt sie. „Außerdem funktioniert es.“ Die Registrierungsämter in Washington und den Suburbs in Virginia und Maryland haben jedenfalls Rekordzahlen zu verzeichnen. Offensichtlich wirkt es Wunder, wenn ein paar zerknautschte Rockstars umringt von Blondinen in Bikinis ihr Publikum mit so einleuchtenden Argumenten zum Stimmgang auffordern wie: „Für das Recht, barbusig den Rasen zu mähen.“ Oder: „Für das Recht, den ganzen Tag ein Kondom zu tragen.“ Madonna hatte sich für ihren „Rock The Vote“-Spot wenigstens in Schale geworfen: Sie zeigte sich eingehüllt in eine amerikanische Flagge. Andrea Böhm
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