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Nebensachen aus WashingtonWenn Steckbriefe in der Post liegen

■ Von Los Angeles nach Washington oder die verschiedenen Formen der Gewalt

Washington (taz) – Es gibt Momente, da erwischt mich die Paranoia, über die ich sonst aus der sicheren Distanz der Beobachterin schreibe. In diesem Fall passierte es, als ich kürzlich zum zweiten Mal einen Steckbrief aus der Post fischte. Den ersten, sechs Wochen zuvor, hatte ich noch mit Fassung zur Kenntnis genommen. Mein „Metropolitan Police Department“ informierte mich und meine NachbarInnen, daß ein Mann nach Anbruch der Dunkelheit mit vorgehaltener Waffe Leute in meinem Wohnblick ausraubt. Für diesen Vorgang fand die Polizei allerdings eine elegante Umschreibung – vermutlich, um zu verhindern, daß man sich allzusehr erschreckt: Wer mit dem Verdächtigen „in Kontakt kommt“, so war auf dem Steckbrief nebst Personenbeschreibung zu lesen, möchte doch bitte die zuständigen Detektive anrufen.

Meine Freundin Clarice, ein ausgemachtes Großstadtgewächs und in solchen Dingen beschlagen, empfahl mir, immer ein oder zwei 20-Dollar-Noten in der Tasche zu haben, die ich im Fall dieses „Kontaktes“ sofort zücken könnte. Bislang ist das Geld immer noch in meiner Tasche, aber ich trage abends meinen Müll nicht mehr runter. Genau dort, bei den Mülltonnen, hat Mister X neulich meine Nachbarin erwischt. Um genau zu sein: Gott sei Dank nur ihren Geldbeutel.

Der zweite Steckbrief kam angeflattert, als ich gerade aus Los Angeles zurückkehrte, wo zur Überraschung der gesamten Fernsehnation niemand einen Aufruhr angezettelt hatte. Damit nicht genug – das „Los Angeles Police Department“, das in den letzten Tagen mit allen verfügbaren Einsatzkräften auf den Beinen war, verzeichnete fassungslos 24 Stunden, in denen kein einziger Mord passiert war. „Normal“ sind fünf und mehr pro Tag und Nacht.

Dafür war Washington in die Schlagzeilen geraten, weil ein zweiter Mister X seit Wochen abends mit einem blauen Toyota und einem Gewehr durch die Straßen meiner Nachbarschaft fuhr und auf einzelne Spaziergänger schoß. Fazit: zwei Tote, vier zum Teil schwer Verletzte.

Die betroffenen Wohnblocks in Mount Pleasant und Columbia Heights waren in Panik, und meine FreundInnen brüteten über dem Stadtplan, um festzustellen, wie nahe Mister X an ihrem Haus vorbeigekommen war. „Wärst du mal besser im friedlichen Westen geblieben“, erklärte Clarice zur Begrüßung. Ich fluchte erstmals in meinem Leben auf die Polizei – nicht, weil sie zu viel, sondern zu wenig unternahm.

Deren Fahndungstätigkeit hatte sich allerdings enorm gesteigert, nachdem der drive-by- shooter bei seiner dritten Attacke erstmals auf ein weißes Opfer gezielt hatte. Mit meiner Nervenruhe war's dann endgültig vorbei, als ich pflichtgemäß als erstes den Fernseher einschaltete, um mich über das Weltgeschehen zu informieren – oder das, was CNN dafür hält. Ich geriet mitten in die Direktübertragung aus Waco, Texas, wo gerade über achtzig Menschen in der Festung der Davidianer-Sekte verbrannten. ABC und CBS waren ebenfalls live dabei.

Auf Kanal 7 berichtete ein lokales Nachrichtenteam statt dessen live aus der 13. Straße in Washington, wo die Polizei gerade die Leiche des letzten Opfers des drive-by-shooters abtransportierte. Dann ging's noch einmal live nach Lucasville in Ohio, wo wieder einmal Scharfschützen der Polizei kaugummikauend ihre Gewehre durchluden und vor einem Gefängnis in Stellung gingen, in dem Häftlinge acht Wärter als Geiseln genommen hatten.

Ich verspüre plötzlich eine Mischung aus Übelkeit und dem Bedürfnis, mich auf die Azoren versetzen zu lassen. Selbst meine Freundin Clarice murmelte irgend etwas von „alle komplett verrückt“. „Wenigstens haben sie ihn erwischt“, sagt sie zaghaft und deutet auf den Steckbrief. Weil er zum ersten Mal bei Tageslicht auf Menschenjagd gegangen ist, hat es die Washingtoner Polizei nun endlich geschafft, den blauen Toyota samt Fahrer aus dem Verkehr zu ziehen.

Ein einziger Kommentator wagt am nächsten Tag, zwischen den verschiedenen Ereignissen eine Parallele zu ziehen: Allen gemein sei Amerikas Obsession mit Schußwaffen. Die National Rifle's Association widerspricht sofort und stellt die Welt wieder mal auf den Kopf: Je häufiger so etwas passiere, desto unverzichtbarer sei das Recht des Bürgers, sich selbst zu bewaffnen. Auch der Kleinanzeigenteil meiner Stadtzeitung spiegelt den Trend wider und bietet Schießkurse an – speziell für Frauen.

Das amerikanische Verständnis von Chancengleichheit fand ich schon immer etwas befremdlich; andererseits kann ich inzwischen so manche Kursteilnehmerin verstehen, nachdem auf Washingtons 18. Straße, der Kneipenmeile, eine Frau von einem Mann erschossen wurde – offensichtlich, weil der sie für eine Lesbe hielt und sie ihm nach der üblichen verbalen Anmache erklärt hatte, er solle sich zum Teufel scheren.

Fürs erste habe ich beschlossen, dem normalen Irrsinn zu widerstehen, dem zweiten guten Rat von Clarice zu folgen und das Geld lieber für Saxophonunterricht auszugeben. Die vierzig Dollar in meiner Hosentasche bleiben allerdings unangetastet. Den Kerl haben sie immer noch nicht erwischt. Andrea Böhm

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