■ Nebensachen aus Rio: Die Meeresgöttin hielt den Atem an
Ein malerischer Fjord des Südens? Ein Schlund stinkender Abwässer, ein Brückenkopf? Über die Bucht von Guanabara, an der Rio de Janeiro liegt, ist schon viel geschrieben worden. „Paul Gauguin liebte ihr strahlendes Licht, Cole Porter ihre Abenddämmerung und der Anthropologe Claude Levy-Strauss verabscheute sie“, dichtete der brasilianische Sänger Caetano Veloso. In dieser Woche lernte der Lastwagenfahrer Arlindo Raul da Silva das salzige Wasser, das den Zuckerhut umspült und sich 60 Kilometer zwischen Inseln und Bergketten ins Landesinnere drängelt, aus einer gänzlich neuen Perspektive kennen.
Der 45jährige Familienvater entkam dem gierigen Meeresschlund – mit Hilfe eines in Fetzen gerissenen Hemdes. Sämtliche „Orixas“, afrikanische Gottheiten, darunter die Meeresgöttin Iemanja, katholische Heilige sowie Spiritisten, die zum Jahreswechsel über der Copacabana zusammenprallen und Millionen von Menschen mit dem blütenweißen Neujahrsgeist überschütten, schienen für einen Moment die Luft angehalten zu haben. Just während dieser Atempause der Götter schickte sich Arlindo Raul da Silva an, die Brücke von Rio de Janeiro nach Niteroi zu überqueren. Das beeindruckende Bauwerk verbindet die Cariocas, wie sich die Einwohner Rios nennen, mit den rund 400.000 Menschen, die es vorziehen, am anderen Ufer der Bucht von Guanabara zu siedeln.
Schon zu Beginn des zwölf Kilometer langen Balanceaktes über die Bucht von Guanabara merkte Arlindo, daß mit seinem Brummi irgendetwas nicht in Ordnung war. Mit wilden Gesten und hartnäckigem Hupen deuteten überholende Autofahrer dem Trucker an, daß dunkle Rauchschwaden aus seinen Reifen drangen. Arlindo witterte, wie sich das große Unheil über ihm zusammenbraute. Eigentlich wollte er sich noch bis zum anderen Ufer schleppen, wußte er doch, wie gefährlich es war, mitten auf der Brücke, über dem Abgrund des Meeres anzuhalten. Doch sein Brummi schaffte es nicht. Arlindo mußte rechts ranfahren, sprang aus seiner Kabine, klemmte sich das Warndreieck unter den Arm und sah, wie ein Lastwagen trotz verzweifelten Winkens mit Volldampf auf ihn zusteuerte.
Arlindos schlimmste Befürchtungen wurden wahr. Der Aufprall des Lastwagens auf seinen Brummi schleuderte ihn samt Warndreieck und Kanistern ins Meer. Unter normalen Umständen wäre die Lebensgeschichte des Cariocas aus dem ärmlichen Vorort Realengo damit beendet. Doch Arlindo wurde bei seinem rasenden Sturzflug aus 35 Meter Höhe neu geboren. Beim Aufprall auf die schäumenden Wassermassen löste sich der Körper des Lastwagenfahrers nicht in seine Einzelteile auf – sondern tauchte in die Fluten des Meeres ein.
Als der Wiedergeborene an der Wasseroberfläche erschien, bestand jedoch zunächst kein Anlaß zum Jubeln. Zwei Schnellboote und ein Hubschrauber übersahen den Gestrandeten, der vergeblich versuchte, sich an den glitschigen Brückenpfeilern festzuklammern. Arlindo zeriss sein Hemd, knotete den Stoffetzen um den Beton und hielt sich daran fest. Nach zwei Stunden inbrünstigen Gebets zu „Nossa Senhora da Aparecida“, der Stadtheiligen Rios, fischte ihn ein Motorboot aus den Meereswogen. Die Nachwehen der wundersamen Wiedergeburt – mehrere Rippenbrüche, Prellungen und angeschwollene Augen – hat Arlindo Raul da Silva bereits überstanden. Noch am Abend desselben Tages schilderte er ungläubigen Reportern der lokalen Presse ausführlichst seine Begegnung mit dem braunen Schlund des Abgrunds, der Bucht von Guanabara. Prost Neujahr! Astrid Prange
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