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Nebensachen aus PragDie Tschechen demonstrieren lieber im Winter

Saure Gurken

Der Gedanke war mir schon während der Demo gekommen. Eingeklemmt in der Menschenmasse hatten wir da am oberen Ende des Wenzelsplatzes festgesessen, zwischen Kentucky Fried Chicken und dem großen Reklameschild für das exklusive Puff um die Ecke. Während wir dann nach stundenlangem Stehen unseren Weg in die nächstbeste Feierabendweinstube bahnten, entwickelte sich der Gedanke weiter. Die „Samtene Revolution“ war im November, die große „Danke, ihr könnt gehen“-Demo im Dezember, und jetzt dieses ganze Brimborium ums Fernsehen, Massenproteste inklusive, fand auch im Winter statt.

„Warum könnt ihr Tschechen nicht auch mal im Sommer demonstrieren?“, raunzte ich einen Kollegen an, sobald mir dank wohliger Weinstubenwärme und Glühwein der Kiefer wieder aufgetaut war. „Weil wir dann alle auf unserer chata sitzen und uns um das Gedeihen unserer Gurken sorgen“, lautete die Antwort, begleitet mit einem abschätzigen Blick ob meiner Unkenntnisse der Grundlagen tschechischer Alltagskultur. Sofort musste ich an kilometerlange Blechlawinen denken, die im Sommer jeden Freitagnachmittag alle Ausfallstraßen aus der Stadt blockieren. Angesichts der mindestens drei erfrorenen Zehen, die ich in diesem Augenblick nicht mehr zu spüren glaubte, war die vage Erinnerung an Staus in sommerlicher Nachmittagshitze eher mit einem Gefühl angenehmer Sentimentalität verbunden. Die chata, auf gut Deutsch Datsche genannt, ist das persönliche Königreich eines jeden Tschechen. Ein Bollwerk der Normalisierungskultur, das auch von der neuen Zeit im Land nicht zerstört werden konnte.

Wenn Sie sich schon einmal gewundert haben, warum Sie bei Ihrem Prag-Trip letzten Sommer keinen einzigen Tschechen getroffen haben, dann wissen Sie jetzt, warum. Am ersten Tag der Ferien setzen die sich nämlich ins voll bepackte Auto und fahren auf ihre chata, bis die Gurken reif sind. Egal, ob das nur eine kleine Einzimmerhütte ist, eine Art fest stehender Wohnwagen. Was im normalen Leben als Unannehmlichkeit betrachtet wird, zum Beispiel der Verzicht auf fließendes Wasser, wird auf der chata zur Selbstverständlichkeit. Natürlich kommt die chata auch in einer luxuriöseren Ausführung vor, nur heißt alles mit Grundmauern nicht mehr chata, sondern chalupa. Die chalupa hat gegenüber der chata den Vorteil, dass sie auch im Winter bequem bewohnbar ist, weil sie meist ein Innenklo hat. Richtige chata-Puristen rümpfen solchem Luxus gegenüber die Nase.

Die tschechische Chata-Kultur entwickelte sich aus dem Bemühen heraus, dem tristen Alltagstrott der Großstadt zu entfliehen, der Natur näher zu kommen. „Die besten chatas hatten immer die Parteibonzen und die Bauarbeiter“, erzählt mein Kollege, der seit meiner Frage nach dem tschechischen Demoverhalten in Kindheitserinnerungen schwelt. „Die einen, weil sie es bezahlt bekommen haben, die anderen, weil sie auf dem Bau alles klauen konnten, was sie für ihre chata brauchten.“ Auch heute noch entspannen sich elf von zehn tschechischen Politikern von ihrer Klüngelei und Ränkeschmiederei am liebsten in ihrer chata. Deshalb dauert die Saure-Gurken-Zeit in Tschechien auch etwas länger als in anderen Ländern.

ULRIKE BRAUN

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