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Nebensachen aus ParisNicht ohne mein „Minitel“

■ Sind auch Sie schon dem Tele-Charme verfallen? Nein?

Paris (taz) – Wenn Sie einen Mann oder eine Frau suchen, eine neue Arbeit brauchen oder umziehen wollen und zudem noch in Frankreich wohnen, müssen Sie längst nicht mehr die eigenen vier Wände verlassen. Es genügt, ein „Minitel“ anzuschaffen. Dieses kleine kommunikationstechnische Wunderwerk, bestehend aus Bildschirmgerät und Schreibmaschinentastatur, gibt es in seiner einfachsten Ausführung umsonst bei der France Telecom. Sie müssen es lediglich aufstellen und an Ihr Telefon anschließen. Dann nur noch die „3615“ wählen und den richtigen Code eingeben, schon wird alles weitere schwarzweiß und lautlos auf den Bildschirm geliefert. Zu bezahlen sind später nur die Telefoneinheiten.

„Natürlich brauchst du ein Minitel“, hatte mir ein Kollege gesagt, als ich nach Paris kam. „Wie willst du sonst schnell einen Blick ins Archiv von Le Monde werfen oder die neuesten Umfrageergebnisse einlesen?“ Der erste Behördengang führte mich also in eine Zweigstelle der France Telecom. Eine freundliche Dame komplimentierte mich in einen Polstersessel und bedauerte: Das von mir gewünschte Standardmodell habe sie leider nicht vorrätig. So mußte ich mit dem moderneren „Minitel 2“ vorliebnehmen, das im Monat sieben Mark Miete kostet. Eine Viertelstunde später stand ich mit Telefon und „Minitel“ wieder auf der Straße.

Mein „Minitel“ hat die Größe eines kleinen Fernsehers. Ich lernte das anthrazitfarbene Gerät schätzen, als ich die neue Adresse einer alten Freundin suchte, die ich aus den Augen verloren hatte. Martine lebt inzwischen nicht mehr in ihrem Heimatdorf, wie sich herausstellte. Mein „Minitel“ fahndete erst in den Nachbargemeinden, dann in der Großregion. Schließlich fand es nicht nur heraus, wo Martine heute wohnt, sondern auch, daß sie sich einen Doppelnamen zugelegt hat.

Dem Charme des „Minitel“ sind seit seiner Einführung vor neun Jahren mittlerweile 16 Millionen Franzosen erlegen. Im Büro oder in den eigenen vier Wänden: Überall finden die Franzosen Zugang zu einem der insgesamt 6,5 Millionen Geräte. Wer gar nicht minitelisiert ist, kann seine Anfragen im „Tabac“ an der Ecke machen. Hier ist das „Minitel“ meist irgendwo auf dem Weg zur Toilette installiert.

Für zahlreiche geschäftliche Erledigungen ist das „Minitel“ ein praktisches Hilfsmittel. Bei Flugbuchungen erspart es die lange Wartezeit im Reisebüro und bei der Kontoführung warnt es rechtzeitig vor teurer Kontoüberziehung. Für Leute, die sich auch privat auf das „Minitel“ einlassen, ist die Sache komplizierter. Wer erst einmal anfängt, mit Jacques im Whirlpool zu flirten, oder sich von Clea das Horoskop durchgeben läßt, kommt nur schwer wieder davon los. Eines Tages – ich suche gerade die Telefonnummer der kommunistischen Gewerkschaft – fragt mein „Minitel“ mich, ob ich Auskünfte über meine Lebenserwartung haben möchte. Soll ich? Das Wetter vom Tag meiner Geburt (es war heiß in Mitteleuropa) und die wichtigsten Ereignisse aus jenem Jahr (unter anderem wurde in Tunesien die Polygamie abgeschafft und in Paris der erste Supermarkt eröffnet) hatte ich mir bereits geben lassen. Ich hatte auch schon erfahren, daß ich eine Vorfahrin habe, die während der Französischen Revolution guillotiniert worden war. Die ärmste Marie-Anne Hahn wollte damals aus Frankreich fliehen, wurde erwischt und vor exakt 200 Jahren geköpft. Da verzichtete ich lieber auf Prognosen über mein eigenes Ableben und schaltete mein „Minitel“ schnell ab, als die gesuchte Gewerkschaftsnummer auf dem Bildschirm erschien.

Wenig später kam die erste Rechnung von France Telecom. Über den ersten Schock tröstete mich die Gewißheit, daß es sich um eine Verwechslung handeln müßte. Die genaue Kostenauflistung ergab leider, daß ich tatsächlich ein Drittel meines Lohnes vertelefoniert hatte. Mein „Minitel“ habe ich trotzdem behalten. Es steht jetzt in einem Regal. Nur noch wenn ich unbedingt muß, trage ich es zum Telefonanschluß und stöpsele es ein – und nur ganz kurz. Dorothea Hahn

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