■ Nebensachen aus Moskau: „Der erste Bedrücker der Russen ist das Clima“
Dunkelgraue regenschwere Wolken hängen tief über den Goldkuppeln des Kreml. Von Menschenhand Geschaffenes soll Gottnatur beschwören. Ein Akt menschlicher Hybris. Doch der Gott gab sich gnadenlos, er strafte unbarmherzig. „Der erste Bedrücker der Russen ist das Clima; Montesquieu möge mir es nicht übelnehmen, aber die übergroße Kälte scheint mir dem Despotismus noch günstiger zu sein als die Hitze ... Die rauhe Natur macht auch den Menschen rauh und grausam“, schrieb Astolphe de Custine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der französische Diplomat kennt Rußland wie kaum ein anderer. Die Russen waren nicht nur Sklaven einer unerbittlichen Autokratie und Tyrannei, bis auf den heutigen Tag sind sie Sklaven der Witterung. Man hegt die Abhängigkeit mit schauerlicher Aufopferung. Kein Berufsstand findet soviel Gehör wie die Meteorologen, die dem Kreml die goldenen Türme verpaßt haben könnten.
Neulich bei einem Präsidentenberater zum Abendessen. Die beiden Top news der Spätnachrichten, dann drückt er den Ton weg. Doch wenig später greift er instinktiv zur Fernbedienung: „In der ersten Tageshälfte ... Schauer ...“ Die Moskauer hören den Wetterbericht mehrmals täglich, als würden sie tags drauf zur Jagd in die Taiga aufbrechen. Die meisten schaffen's nur zur U-Bahn. Gebannt sitzen sie da, auf das Schlimmste gefaßt, der Urteilsverkündung harrend, schicksalsergeben, niedergedrückt und entmutigt. Dann der Griff zum Telefon. Womöglich hat es einer der Lieben verpaßt. Sie trauen dem gesprochenen Wort nicht, dem der Metereologen auch nicht. Dafür ließe sich Verständnis aufbringen.
Nun könnte man sich am nächsten Morgen selbst ein Bild verschaffen. Das Fenster öffnen, vielleicht einen Schritt vor die Tür wagen. Die Russen machen es anders. Sie folgen ihrer inneren Stimme. Der Außenwelt ließe sich durch Überprüfen ein Mindestmaß an sicherer Information abgewinnen. Hier stoßen wir auf etwas Unbegreifliches, etwas Unfaßbares, das man schlechthin mit „russisch“ gleichzusetzen hat. Die Realität existiert nur als ein emotionaler Entwurf. Das Nichtsehenwollen beherrscht alles. Der Russe begreift sich als ein autarker Mikrokosmos. Ihm entgeht, daß seine innere Stimme nicht weniger Trügerisches flüstert.
Die Geschichte hält mannigfaltige Ursachen für derartiges Verhalten bis auf den Tag parat. In Gegenwart des Zaren sprach man nicht über dessen grippalen Infekt. Der Herrscher hatte gesund zu sein. Verstießen die Hofschranzen dennoch gegen die Regel, hatten sie wirklich allen Grund, sich warm anziehen, um Sibirien zu überstehen. Wachen Moskauer schweißgebadet auf, sagt ihnen der zentrale Heizplan, der Winter ist angebrochen. Ob dem so ist oder nicht.
Kurzum: Kaum ein Russe ist jemals otdjet po pogodje, lies: der Witterung entsprechend angezogen. Die Frauen übertreffen dabei noch die Männer, da diese auf ihr Äußeres keinen Wert legen. Meistens ziehen sie sich zu warm an. Die Angst vor der Kälte sitzt längst in der Genstruktur. Sie werfen sich eine Pellerine nach der anderen über und bleiben trotzdem die größten Frostbeutel.
Doch seit einigen Jahren – seltsamerweise zeitgleich mit dem Weg in die Demokratie – wurde auch das Wetter launisch. Längst klirrt nicht mehr der Frost im Oktober. „Jetzt kann man ja noch die leichten italienischen Dinger tragen“, meinte Natascha irgendwie unzufrieden, „unsere brauchen wir nicht mehr.“ Was den Kreml- Erbauern nicht gelang, schafften die Experten der russischen Produktion mit beharrlicher Schlamperei und Gleichgültigkeit. Die Umwelt erwärmt sich und schöpft womöglich doch noch etwas Unvorstellbares: den Menschen anderen Typs. Klaus-Helge Donath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen