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■ Nebensachen aus MoskauDie Unerreichbarkeit des Greifbaren

Vergnügen war in Moskau immer ein Krampf. Kampf mit Einlassern, Administratoren und all den überschüssigen Kostgängern des Mangels. Heute nun: neue Zeiten und ein wenig gewandelte Sitten. Bars und Etablissements eröffnen fast täglich in downtown Moscow. Das Angebot wird reicher, der Eintrittspreis selektiert auf natürliche Weise, ohne Diskriminierung. Ab zwanzig Dollar aufwärts. Die Türsteher tragen keine zerschlissenen, schuppenbeschneiten Uniformen mehr, sie stecken in Anzügen, die sich andernorts Vertreter höchster Einkommensklassen leisten.

Die Damen, zuständig für Einschank, Ausschank und Diverses vermitteln dem vergnügungshungrigen Stromer trotz liebenswürdigen Lächelns das Gefühl, in eine Resozialisierungsmaßnahme geraten zu sein. Die strenge Festigkeit einer postenbekleidenden Russin, so will es scheinen, hat mit Alter und Generation wenig zu tun. Ihr Auftrag ist auf Ewigkeit angelegt: Domestizieren ohne das Wilde völlig auszutreiben. Vor kurzem eröffnete der Club „dolls“ mit einem ungewöhnlichen Erziehungsprogramm. Unterschiedlichste Kreise fühlen sich angesprochen. Mit fünfzig Bucks ist jeder dabei. Die Karte verschwindet unter dem Glas, es folgt die Detektorkontrolle, gründlicher als am Flughafen. Die Bar umschließt die Bühne wie ein Burggraben. Reichtum ist in Rußland sinnlich erfahrbar geworden. Dafür sorgten wieder mal die Amerikaner. Ihre Stripperinnen tanzen es allabendlich vor und liefern Rußlands Reichen ein Erziehungsprogramm. Sie entblättern sich in Greifweite, wechseln Halbvertrauliches und trainieren so ein Berühungstabu. In einer Gesellschaft, die körperliche Distanz nicht kennt, durchaus ein Lernziel: Zupacken verboten, Dollars hinter Slipstring oder Straps montieren dagegen erwünscht. Den Männern fällt es schwer, die Regeln ohne Aussetzer zu befolgen. Hin und wieder verharrt eine Hand länger als erlaubt. Ein Klaps auf die Pfoten konditioniert.

Vor Wlad auf dem äußeren Barring windet sich eine Schöne aus Montana. Er steht auf – Schlagseite Backbord, im Zwielicht huschen seine Augen hin und her. Sie finden keine Ruhe, die Hunderter müssen aussortiert werden, dann aber diese Nähe, diese unbegreifliche Nähe! Und sie siegt, erschöpft klemmt er das ganze Bündel in den Strumpf. Doch dafür möchte er ... Pardon, die Spielregeln. Brav plumpst Wlad zurück in den Sessel.

Gegenüber direkt an der Bühne sitzt eine gemischte Gesellschaft, Frauen, Männer, Nichtrussen. Die Blonde trippelt zu ihnen hin. Der Gast kann individuelle Vorstellungen ordern. Auch dieser Genosse, den die Anmut des Mädchens an den Stuhl fesselt, fuchtelt mit seinen Fingern in der Gefahrenzone. Er will es nicht wahrhaben, überschreitet das Niemandsland. Und – wird mit aller Sanftmut auf seine Körpergrenzen verwiesen. Die Männer sind verzaubert, die aufgeschobene Begierde bringt sie an den Rand. Wassili trennte sich an diesem Abend von fünf-, seine Frau Natascha von achttausend Dollar. Spaß hat es beiden gemacht. Die Erfahrung, nicht alles sei käuflich, muß auch bezahlt werden. Unerreichbarkeit des Greifbaren. „Die russischen Courtisanen und die Frauen, welche mit diesen Geschöpfen wetteifern, kennen nichts Heiliges, nicht einmal die Ehrlichkeit in der Ausschweifung“, schrieb Custine. Die Amerikanerinnen machen dagegen Täuschung zum Programm, den (käuflichen) Sex zur Fiktion. Klaus-Helge Donath

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