■ Nebensachen aus Moskau: Vom Olymp des Kollektivs hinab zum Menschen
Rußland ist ein Reich der Literatur. Der Poet ist gottgleich und jeder Russe ein Poet. Sobald er den Gebrauchswert der Sprache erprobt und dessen Banalität erkannt hat, treibt es ihn zu Höherem. Ob Waleri, Wadim oder Tatjana — sie alle hüten einen Schatz, ein Heft oder eine Loseblattsammlung des Intimsten: Lyrik.
Indes sie rühmen sich ihrer nicht. Der Russe als Dichter ist bescheiden, ja geradezu demütig. Puschkin, Mandelschtam, Jessenin, Zwetajewa — wer wollte es wagen, sich mit den Göttern zu messen?! Ehrfurcht erweist man ihnen durch die lebendige Erinnerung im Zitat, Gedankensplitter für nahezu jedwede Drangsal. Rußland war ein einziges Zitat.
Mit der neuen Zeit tauchten falsche Götter auf. Fliegende Händler boten bunte Broschüren und zusammengeschusterte Raubdrucke trivialer Machwerke aus dem Westen feil. Nun ließen sich auch Russen von Sex, Crime und Niedertracht verführen. Plötzlich verschlingen die kulturtreger von einst – das Russische macht da beim Deutschen eine Anleihe – in der Metro den „Liebhaber im Herbst“ aus der Serie „Charm“ oder schmachten über dem „Preis der Liebe“, der im Zyklus „Intrige“ erschien. Vornehmlich Damen im zweiten Lebensabschnitt greifen zu dieser Art Kurzweil. Männer zieht es eher zu Science fiction – den fantastiki – und Action-Romanen.
Die sowjetische Intelligenz sah die Grundlagen der Kultur im westlichen Schlamm versinken. Nach dem territorialen Zerfall bangte man nun um die kulturelle Integrität. Waren Tolstoi und die Klassiker nicht wirkungsvolle Waffen im Kampf um die imperiale Hegemonie?
Der Glaube an die Überlegenheit erschwert Rußlands Weg in eine vorurteilsfreiere Gesellschaft. Das Buch fördert nicht unbedingt Toleranz – eher Katechismusfestigkeit. Und nun dies! Waren die Landsleute womöglich gegen derlei Unrat doch nicht gefeit? Sollte der Kampf gegen poschlost, die russische Version von Kitsch, den Dostojewski aufnahm und Solschenizyn bis heute unermüdlich weiterführt, vergebens gewesen sein?
Aber das Individuum läßt sich seine Sehnsüchte nicht mehr verbieten. Mittlerweile verschwindet das Triviale in Übersetzungen. Die Russen holen auf. Der Schund ist jetzt home-made, mit landesspezifischem Kolorit. In Krimis lebt ein wenig Sowjetnostalgie fort, die gegen westliche Verdinglichung und Konsumwahn zu Felde zieht. Sie bedient den russischen Mythos, dem Materiellen abholder und genügsamer zu sein als die Nachbarn. Die von der Jugend bevorzugten Action-Romane indes verarbeiten die Realität höchst seriös, manchmal gar schwermütig, ohne einen Anflug von Humor oder Komik. Im Westen wären sie wohl unverkäuflich. Dafür beherrscht nun der Einzelkämpfer das Geschehen. Ein grandioser Fortschritt dort, wo Erfolg grundsätzlich im Kollektiv angesiedelt war. So ist es ausgerechnet der Trivialroman, der Rußlands knappste Ressource heranbildet – die Eigenverantwortung.
Die ernste Belletristik müht sich inzwischen auch um das Subjekt. Lange Zeit von den Lesern gemieden, folgten junge und unbekannte Autoren den ehemaligen Dissidenten in die Westverlage — jetzt kehren sie in die Heimat zurück. Sie werden sogar gelesen, nur nicht mehr überschwenglich und schwärmerisch gefeiert wie früher. Sie nehmen Menschengestalt an, reifen behutsam mit der Auflage. Im Lande Puschkins hat das Buch den Status einer Reliquie eingebüßt. Literatur ist nur noch eine Form gelebten Lebens, und das Leben zwingt den Russen dazu, sich in der Prosa zurechtzufinden. Klaus-Helge Donath
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