■ Nebensachen aus Madrid: Zwischen Flamenco und Müllhalden
Der durch Filme wie „Carmen“ und „Bluthochzeit“ bekannte Filmemacher Carlos Saura löste alles aus. Seit der Uraufführung seines neuesten Musikfilmes „Flamencos“ ist Madrids kunstinteressierte High- Society im Fieber. Die Rhythmen der Gitanos, wie die Sinti und Roma hier heißen, füllen die Säle der Stadt. Spanien und Flamenco sind Synonyme – und Madrid ist die Hauptstadt von beiden.
Das dachte sich auch der junge Tänzer Joaquén Cortes, der dank Saura sein Talent nun in den Programmkinos Europas vorstellen darf. Auch er wählte die spanische Metropole zur Uraufführungsstätte seines neuen Tanztheaterstücks. Madrid bedankte sich mit einem allabendlich vollen Haus und mit begeisterten Pressekritiken. Der Titel des Stücks, das jetzt auf Europatournee geht: „Pasión Gitana“ – Zigeunerleidenschaft.
Draußen vor der Stadt, wo über fünfzigtausend Mitglieder dieser ethnischen Minderheit leben, stellen sich solch überschwengliche Gefühle nicht ein. Falls König Juan Carlos gerade mal nicht zum pressewirksamen Händeschütteln und Kaffeetrinken vorbeikommt, erinnert sich niemand an die Bewohner der unzähligen Slumsiedlungen. Am schlimmsten traf es 56 Familien in Cañada Real. Sie hausen im Niemandsland zwischen riesigen Öfen zur Beseitigung des Wohlstandsmülls der Dreimillionenstadt und einer stinkenden illegalen Halde, auf der alles – bis hin zu radioaktiven Hospitalabfällen – lagert, was auf den Verbotslisten der Gesundheitsbehörden eingetragen ist. Dazwischen wird eine Schweinezucht betrieben, die sich über jegliche hygienische Richtlinie hinwegsetzt. Hautausschläge, fiebrige Tuberkulose, Hepatitis und Magen-Darm-Erkrankungen, vor allem bei Kindern, sind die Folgen der Umweltbelastung. Die spanischen Haustiere sind weniger widerstandsfähig. Sie verenden.
Seit Mai 1995, als die Stadtverwaltung die dreihundert Gitanos umsiedelte, leben sie hier in selbstgezimmerten Holz- und Wellblechhütten. Dabei hatte ihnen das Rathaus schöne neue Wohnblocks versprochen – und das Versprechen nicht gehalten. Als sie in Cañada Real ankamen, riß man mittlerweile ihre alten Hütten in der Nähe des hauptstädtischen Flughafens ab. Die spekulationsträchtigen Grundstücke hatte die Stadt als Bauplatz an eine Supermarktkette verkauft. Dabei wurden die störenden Bewohner schnell und kostengünstig auf die Müllkippe verschickt.
Solche Zustände lösen in Madrid keine Leidenschaften aus. Ein Gitano, der es nicht zum Flamenco-Künstler bringt, hat kaum Perspektiven. 61 Prozent aller Gitano-Familien sind ohne feste Arbeit, 90 Prozent der Arbeitslosen haben keinen Unterstützungsanspruch. Nur jeder dritte kann lesen. Bleibt das zaghafte, wenn auch leidenschaftliche Plädoyer von Carlos Saura am Ende von „Flamencos“. Jugendliche verschiedenster Herkunft tanzen in einer leeren Bahnhofshalle zum Rhythmus der Gitarren. Träumereien im zarten Morgenlicht, fünfhundert Jahre nachdem sich die ersten Gitanos auf der iberischen Halbinsel niederließen. Reiner Wandler
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