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■ Nebensachen aus KiewWie nach Brest kommt, wer nach Minsk will

„Fahrkarten nach Minsk? Kein Problem, das weiß ich genau“, sagt Sergej. Der real existierende Postbahnsozialismus belehrt uns am nächsten Tag leider schnell eines Besseren. Zentrale Kasse für Fahrkarten in Kiew: „Nach Minsk, heute abend? Gibt's nicht mehr. Versuchen Sie es am Bahnhof“, sagt die Fahrkartenverkäuferin, die heute offensichtlich gar nichts zu verkaufen hat. Auch die beiden hinter uns gehen leer aus.

In der riesigen Bahnhofshalle drängen sich die Menschen vor den Schaltern. „Kasse für Deputierte“, „Kasse für Militärangehörige“, „Kasse für Mitarbeiter der Eisenbahn“... Den Schlangen nach zu urteilen, gibt es in der Ukraine genauso viele Militärs, Eisenbahner und Abgeordnete wie Normalsterbliche. Nach zwei Stunden haben wir uns endlich bis zur gemeinen Volkskasse vorgekämpft. Die Antwort ist auch gemein: „Fahrkarten nach Minsk ausverkauft“, schnauzt die Frau, ohne aufzusehen. „Und für morgen und übermorgen auch.“

Doch Sergej gibt nicht auf. „Bron“ heißt das Zauberwort. Es bedeutet, daß zwei Stunden vor der Abfahrt die übriggebliebenen Fahrkarten der Spezialkassen in den allgemeinen Verkauf gehen. Pünktlich nehmen wir wieder Aufstellung, jeder vor einer anderen Kasse. Zehn Minuten später ist auch der Traum von „Bron“ ausgeträumt. „Minsk njet“, flüstert es durch die Schlange.

Da hat Sergej noch eine Idee: der Chef des Zugs. Mit dem könne man manchmal..., na ja, das kostet dann schon etwas mehr. Als der Zug angekündigt wird, stürmen wir zum Bahnsteig. Eine Handvoll Leute belagern schon den Zugchef. Den Schnauzer höhnisch nach oben gezogen, genießt der seinen Auftritt im Kreise der Flehenden. Eine alte Frau nähert sich schüchtern. „Jemand aus meiner Familie ist gestorben. Ich muß unbedingt nach Minsk zur Beerdigung. Bitte nehmen Sie mich mit.“ Der Herr über zehn Waggons dreht sich kurz um. „Wer in deiner Familie abkratzt, ist mir völlig egal. Los, Alte, verschwinde, wenn du keine Fahrkarte hast.“

Am nächsten Morgen ist Sergej voller Optimismus: „Heute klappt's. Ich habe am Schalter Bescheid gesagt. Die legen uns Fahrkarten zurück. Gegen einen kleinen Aufpreis.“ Drei Stunden später: Kiewer Bahnhof, die zweite. In der Halle wimmelt es von Menschen. Sergej hechtet zum Schalter. Die Frau erinnert sich sogar noch, mehr aber auch nicht. „Nach Minsk? Nein, tut mir leid“, sagt sie. Uns auch. Also wieder „Bron“. Und wieder nichts. Sergej unternimmt noch einen letzten Versuch. „Vor fünf Minuten hatte ich noch vier Karten, aber die sind gerade in die Abgeordnetenkasse gegangen“, sagt die Frau. Aha, „Bron“ funktioniert diesmal in die andere Richtung.

Wir schlendern durch das Bahnhofsgebäude. Hier und da haben sich junge Männer postiert und halten Fahrkarten hoch. Sie kaufen die Tickets gleich dutzendweise und verscherbeln sie dann weiter. Für das Dreifache. Minsk ist leider nicht dabei.

„Können wir es nicht mit einer anderen Strecke probieren?“ frage ich. Wir suchen den Fahrplan ab. Da: Brest. Liegt zwar nicht ganz auf dem Weg, genauer gesagt, 300 Kilometer westlich von Minsk, aber immerhin in Weißrußland. Wir schleppen uns zum Schalter. „Kein Problem, wie viele Fahrkarten wollen Sie? Ungläubig starren wir auf zwei schäbige Papierfetzen in Blaßgelb: Waggon 18, Plätze 21 und 24. Sergej holt Bier. Endlich fährt der Zug ein. Unser Waggon ist ganz am Ende. Wir sind es auch. Barbara Oertel

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