■ Nebensachen aus Chiapas: Wo, bitte, geht's hier zum Röntgen?
Eigentlich sollte die Reise nach La Realidad, Austragungsort des „Intergalaktischen Treffens“ der Zapatisten-Guerilla, gehen. Doch die Fahrt über nebelverhangene Serpentinen endete abrupt mit einem Autounfall und damit keinesfalls in wundersamen zapatistischen Realitäten, sondern in der kruden Wirklichkeit des Generalhospitals von San Cristóbal de las Casas. Nun mußte die leicht an der Hand verletzte Berichterstatterin am eigenen Leib erfahren, was sie bisher nur aus sicherer Entfernung über den erbärmlichen Zustand staatlicher Dienste in Chiapas gehört und geschrieben hatte.
Für die BewohnerInnen der umliegenden Indiodörfer ist der beigefarbene Flachbau des Krankenhauses sicher eine eher luxuriöse, oft unerreichbare Zuflucht. Der vom strahlenden Krankenhausweiß verwöhnten Erstweltlerin aber wird beim Anblick der fleckigen Laken und löchrigen Vorhänge noch mulmiger, als ihr ohnehin zumute ist. Der diensthabende Arzt in der Notaufnahme scheint Gedanken lesen zu können. „Wir haben hier nichts“, klärt er die vor ihm Liegende vorsorglich auf, „aber dafür kommt alles vom Herzen.“
Ein gutgelauntes Team, das offensichtlich größere Verwüstungen gewöhnt ist, macht sich ans Improvisieren. Immer mal wieder tätschelt eine Krankenschwester den Arm, während eine andere damit beauftragt wird, ein wenig Faden zum Flicken des verletzten Fingers zu „suchen“. Mit resoluten Tröstungsversuchen — „Was ist schon ein Stückchen Finger, Herzchen?“ — bemüht man sich, die ob des Verlusts der Fingerkuppe verstörte Besucherin bei Laune zu halten. „Zum Glück ist es der Mittelfinger“, ergänzt jemand sarkastisch, „dann sind wenigstens alle gleich lang.“
Auch nach beendeter Näherei hat der Doktor, der sich gleichzeitig um eine Indiofrau mit starken Blutungen kümmert, keine erkennbare Eile. Akribisch tastet er den Körper nach weiteren, womöglich hinterlistig versteckten Unfallfolgen ab. Man könne ja nie wissen, sagt er dann, und verbietet bis auf weiteres sämtliche Kopfbewegungen. Wenig später kommt er mit einem Stück zusammengerolltem Zeitungspapier zurück. „Die Dinger sehen in Deutschland sicher etwas anders aus“, lächelt er entschuldigend und befestigt die papierne Halsstütze mit Tesafilm unterm Kinn.
So ausgerüstet geht es, immer mit starrem Bick an die bröcklige Decke, auf eine kleine Odyssee zum Röntgenraum. „Weiß jemand, wo's zum Röntgen geht?“ fragt die junge Schwester, die die klapprige Bahre vor sich her schiebt und heute wahrscheinlich einen ihrer allerersten Tage im Hause hat.
Das endlich erreichte Durchleuchtungszimmer erinnert dann eher an einen Maschinenraum um die Jahrhundertwende denn an moderne medizinische Installationen. Medikamente gibt es gar nicht erst: Selbst größere Mengen Verbandszeug oder die Lösung für den Tropf müssen „draußen“ in der Apotheke erworben werden; erfahrenere Patienten tragen auch ihre Klopapiervorräte wohlweislich mit sich herum. „Das hier ist eben ein Armenkrankenhaus“, wird die Fremde auf den Fluren von einer Einheimischen angezischt — der bestürzte Gesichtsausdruck hatte Bände gesprochen.
Trotz alledem: „Hervorragende Arbeit“ wird dem Armenarzt aus dem fernen Chiapas später vom Kollegen eines hauptstädtischen Edelspitals bescheinigt. Noch unglaublicher aber erscheinen die Kosten für den kompetenten Service: Ganze vier Mark fünfzig will die Klinikverwaltung zum Schluß kassieren — inklusive Röntgenbilder. Alle Versuche, den Kassierer zur Annahme eines höheren Betrags zu bewegen, schlugen fehl. Das sei halt der Tarif, sagte der gute Mann ebenso stur wie verständnislos: „Der gilt für alle.“ Dem nächsten Ausländer, der sich lauthals über die heillose Ineffizienz und Korrumpierbarkeit der Mexikaner mokiert, rate ich zu einem klitzekleinen Abstecher ins Hospital General von San Cristóbal de las Casas. Anne Huffschmid
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