■ Nebensachen aus Brüssel: Leben unter Verrückten
Eine französische Schulklasse mußte kürzlich einen Austausch mit belgischen Schülern absagen, weil die französischen Eltern Angst hatten, ihre Kinder in dieses gefährliche Land zu schicken. So etwas kommt jetzt öfter vor. Belgien hat keinen guten Leumund. Und ich bin daran nicht unschuldig. Wenn ich meine Artikel der letzten Jahre durchschaue, drängt sich die Frage auf, wie man in diesem schauerlichen Land überhaupt leben kann.
Es ist höchste Zeit, ein paar Dinge klarzustellen. Belgien ist ein angenehmes Land, die Belgier sind freundlich, und Brüssel macht Spaß. Das ist keine isolierte Meinung, als Kronzeugen ließe sich eine Reihe von Korrespondenten anführen, die immer die schrecklichen Geschichten von entführten Kindern, einer unfähigen Justiz und schlampigen Handwerkern erzählen. Das ist aber nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte läßt sich nicht so einfach beschreiben und steht daher selten in den Zeitungen. Sie kommt aber regelmäßig ans schummrige Licht der Brüsseler Kneipen, sobald dort ein paar Journalisten zusammen sitzen.
Nach ein paar Gläsern Wein, wenn all die Geschichten ausgetauscht sind von dem Handwerker, der mit dem Schweizer Offiziersmesser anrückte, um die Waschmaschine zu reparieren, gerät das Gespräch gerne ins Stocken. Nicht, weil die skurrilen Anekdoten ausgehen. Aber irgendwann läßt sich die Frage nicht mehr umgehen, warum trotzdem kaum einer weg will.
Wenn die für Auslandsaufenthalte übliche Nörgelphase von eineinhalb Jahren abgelaufen ist, richten sich die allermeisten gerne auf länger ein. Nur die Schweizer sehnen sich auch noch nach Jahren in ihre alpenländische Ordnung zurück. Und das ist es vermutlich, was den Charme Belgiens ausmacht, dieser diametrale Gegensatz zu Bern. Oder für alle, die Bern nicht kennen: Brüssel ist das Gegenteil von Stuttgart. Der gelassene Umgang mit der Unordnung macht den Alltag ziemlich angenehm.
Keine Hauswarte, keine Kehrwoche und auch sonst kaum Vorschriften, die nicht zu umgehen wären. Belgien ist ein zutiefst anarchistisches Land, in dem jeder nach seiner Fasson selig werden kann. Jahrhunderte abwechselnder Besatzungen durch fast alle europäischen Staaten haben ein ausgeprägtes Mißtrauen gegen jede staatliche Ordnung hinterlassen. Man gibt der Polizei keine Tips, und Denunzianten sind verpönt. Und noch etwas fällt auf, wenn man aus Deutschland oder Frankreich zurückkommt: Die Belgier sind freundlich.
So viele Nachbarn wie hier habe ich noch nie gekannt. Daß fast nichts funktioniert, ist eben der Preis dafür, in einem freundlichen Land zu leben. Denn solange niemand ernsthaft protestiert, wird auch noch der Sohn des Elektrikers die Waschmaschine mit dem Taschenmesser zurechtbasteln. Es ist nicht leicht, in Artikeln den richtigen Eindruck von einem Land zu vermitteln, das ganz anders tickt. Der Korrespondent einer großen Zeitung meinte einmal, er schreibe aus Brüssel nur noch über EU und Nato, weil ihm die Berichte über Belgien regelmäßig zu schief geraten seien: „Zu Hause haben sie gedacht, ich lebe unter Verrückten.“ Alois Berger
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