■ Nebensachen aus Brüssel: Belgische Besen kehren besser
Meine erste Begegnung mit der hiesigen Volksseele fand am frühen Morgen statt. Am sehr frühen Morgen. Ich war um sieben Uhr aufgestanden, um die Parkplätze vor unserem Haus mit Streifenband zu markieren, denn zwei Stunden später sollte schon der belgische Umzugsunternehmer die Möbel aus Bonn bringen.
Kaum steckte ich die Nase vor die Haustür, stand die Nachbarin aus der Wäscherei neben mir. „Schön, dass hier endlich ordentliche Leute einziehen“, begrüßte sie mich. „Das Trottoir ist ja in einem schrecklichem Zustand.“
Ich betrachtete das Trottoir und nickte ihr verständnisvoll zu. Die meisten Pflastersteine wackeln, einige fehlen ganz, in den Fugen wächst Gras. Jede deutsche Kommune hätte diesen Bürgersteig längst wegen Unfallgefahr gesperrt.
In Brüssel allerdings sehen alle Trottoirs so aus. Die Eurokratinnen im Citylook haben bereits eine gewisse Geschicklichkeit darin entwickelt, auf Highheels in beachtlichem Tempo die Bürgersteige entlang zu balancieren, ohne sich dabei die Knöchel zu brechen.
Meine Zustimmung brachte die Nachbarin zu der Überzeugung, einen gleichgesinnten Menschen getroffen zu haben. Sie plazierte noch ein paar weitere Seitenhiebe gegen den „Franzosen“, der vor mir hier gewohnt und alles sträflich vernachlässigt habe. Dann drückte sie mir den Straßenbesen in die Hand und äußerte die Hoffnung, dass ich, da ich ja einem Kulturvolk angehöre, nun auch unverzüglich der Fassade zu Leibe rücken werde.
Zu perplex, um zu widersprechen, kehrte ich ein bisschen auf dem holperigen Pflaster herum. Bei der Fassade allerdings streikte ich. Meine Nachbarin nahm mit Enttäuschung die Nachricht auf, dass es in Deutschland völlig unüblich sei, Fassaden zu schrubben.
Zwei Stunden später kamen meine Möbel. Glücklicherweise war einer der Packer ein arbeitsloser Regisseur mit Kenntnissen der Weltliteratur. Er hörte sich meine Geschichte verständnisvoll an und empfahl dann Baudelaire. In dem Essay „Pauvre Belgique!“ würde ich ganz sicher ein Trost und Erbauung finden.
Der Mann hatte recht. Tatsächlich hat sich der große Lyriker ausgiebig über die Landessitte des Trottoir- und Fassadenkehrens ausgelassen. „Brüssel riecht nach Kernseife. Die Hotelzimmer riechen nach Kernseife. Die Betten riechen nach Kernseife. Die Handtücher riechen nach Kernseife. Die Bürgersteige riechen nach Kernseife. Man schrubbt die Fassaden und Bürgersteige, selbst wenn es aus Kübeln schüttet. Manie nationale, universelle.“
Brüssel-Besuchern empfehle ich einen Zeitvertreib, der in keinem Reiseführer steht: Putzzwang-Spotting. Wer aufmerksam hinaufschaut zu bröseligen Dachgauben und blätternden Jugendstil-Fassaden, kann schon nach einem Tag mit reicher Ausbeute nach Hause fahren: Alte gebrechliche Männer, die halsbrecherisch aus Dachfenstern lehnen und mit kleinem Besen kreisförmige Bewegungen machen.
Dicke Damen, die am späten Nachmittag im rosa Morgenmantel vor der Hauswand stehen und den Sand aus den Fugen zwischen den Ziegelsteinen herausschrubben. Sie kehren und kehren. Und sie werden nicht aufhören, bis sie ihre ganze Jugendstil-Stadt in einem großen Sandhaufen zusammengekehrt haben. Daniela Weingärtner
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