Natur: Berlin ist Insel der Artenvielfalt
Die Landwirtschaft vertreibt Tiere aus ihrem Lebensraum. In der Hauptstadt ist die Artenvielfalt inzwischen größer als im Umland.
Wo leben wohl mehr unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten: in der Stadt oder auf dem Land? Für Josef Reichholf, Professor für Naturschutz an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist die Antwort klar: Moderne Großstädte wie Berlin seien "Inseln der Artenvielfalt" in der Eintönigkeit der modernen Landschaft. Das zeige sich zum Beispiel bei Vögeln, sagte Reichholf am Samstag auf dem 9. Berliner Naturschutztag des Naturschutzbundes Nabu. "Je mehr Einwohner eine Stadt hat, desto mehr Brutvogelarten leben dort." In Berlin seien inzwischen drei Viertel aller 200 in Deutschland vorkommenden Brutvogelarten beheimatet.
Ob Nachtigallen, Füchse, Wildschweine oder Waschbären: Immer mehr Tiere zieht es in die Stadt. Das liegt vor allem an der industrialisierten Landwirtschaft mit Monokultur und Pflanzengiften, so das Fazit des 9. Berliner Naturschutztages des Nabu. Für die Tiere bedeutet das eine enorme Anpassungsleistung. Aber auch die Menschen müssen sich auf die neuen Nachbarn einstellen.
Attraktiv für Vögel ist, dass in Berlin die Böden nicht überdüngt sind und die Temperatur höher liegt als im Umland. Und die vielen Gärten und Parks bieten genug Lebensraum. Auf dem Land dagegen breiten sich "Agrarwüsten" immer weiter aus, wie Reichholf vor rund 200 Zuhörern in der Kreuzberger Jerusalemkirche die moderne Landwirtschaft kritisierte. Durch die übermäßige Düngung mit Stickstoff würden erst viele Pflanzen sterben, dann die Insekten und schließlich die Vögel. Mehr als 90 Prozent des Artenschwundes gehen nach Reichholts Überzeugung auf das Konto der Landwirtschaft, die auf riesigen Flächen immer nur eine Hochleistungspflanze anbaut. Demgegenüber sei der Schaden durch Industrie und Verkehr zu vernachlässigen.
Besonders ärgert Reichholf, dass ausgerechnet die Naturliebhaber unter den Artenschutzbestimmungen leiden: Sie dürfen sich nicht frei in der Natur bewegen und können sich kaum mit geschützten Arten beschäftigen. Für Landwirte als die Hauptverursacher des Artenschwundes hingegen gebe es hingegen sogar zahlreiche Ausnahmen in den Naturschutzgesetzen - so bekämen sie für ihre Abwässer Ausnahmen von den Vorschriften zur Gewässerreinhaltung.
Die Gärten und Parks in den Städten seien dagegen nicht durch die Landwirtschaft belastet. "In Millionenstädten leben sogar mehr Tier- und Pflanzenarten als in so manchem Naturschutzgebiet", so Reichholts Fazit. Noch artenreicher als Städte seien nur noch Truppenübungsplätze.
Doch nicht alle Tiere werden von den Berlinern freudig empfangen. Bienen und Hornissen zum Beispiel sind oft nicht gerne gesehen. Und "Berlin ist die Hauptstadt von allem, was fliegt und sticht", so Melanie von Orlow, die sich als Leiterin der Nabu-Fachgruppe Hymenopterenschutz um Wespen, Ameisen und Bienen kümmert. Von Orlow und ihre Mitstreiter werden häufig angerufen, wenn Hornissen, Hummeln oder Wespen sich ein Nest im Garten, im Schuppen oder auf dem Balkon gebaut haben. Wenn es notwenig ist, das Nest umzusiedeln, sammelt von Orlow zuerst die Hornissen ein - mit einem Netz oder auch mal mit dem Staubsauger. Dann wird das Nest an einen neuen Ort gebracht, zum Beispiel in den Garten von einem der rund 30 Hornissenpaten in Berlin.
Eine Umsiedlung der unter Artenschutz stehenden Tiere ist aber nur in rund 10 Prozent der Fälle notwendig - meistens reicht schon eine telefonische Beratung aus. Von Orlow: "Viele Berliner sind schon beruhigt, wenn sie erfahren, dass Hornissennester nur einjährig sind" - im nächsten Jahr suchen sich die ungebetenen Gäste einen anderen Ort. "Artenschutz betreiben wir nicht durch Umsiedlungen", so von Orlow, "sondern dadurch, dass wir ans Telefon gehen." Aber manchmal liegt das Nest so versteckt, dass eine Umsiedlung nicht möglich ist. Bei hohlen Bäumen ist das häufig der Fall, erklärt Orlow. Dann hilft nur noch der Kammerjäger mit seinem tödlichen Gift.
berlin.nabu.de
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