KOMMENTAR: Natürliche Auslese
■ Aggressionen im Straßenverkehr anders betrachtet/ Unfalltote als abstrakte Zahlen für Verkehrsrowdys
Wer rast, tut etwas für die Volkswirtschaft, indem er eine nützliche VerbraucherIn ist, zum Beispiel von Ersatzkotflügeln, Stoßstangen usw. Er tut auch etwas für seine Gesundheit, für seine eigene, versteht sich. Rasen ist gut gegen Streß, Wut auf den Gatten und die miese Chefin. Es schützt durch Aggressionsabbau vor Magengeschwüren und spart somit Krankenkassenkosten. Daß dabei Nachbars Dackel auf der Strecke bleibt, die Schwiegermutter von Herrn Meyer und das Studentenpaar auf dem Moped, sind zu vernachlässigende Nebenwirkungen.
Spaß- und Spielverderber der »Weekend«-Gesellschaft mögen da noch so moralinsauer lamentieren. Möglicherweise kommen sie gar auf die Idee, die fünf toten Kinder, die Autofahrer bis April '91 auf den Berliner Straßen erlegt haben, als Argument gegen die Autofahrer zu mißbrauchen. Die Kinder sind nämlich, sozusagen, abstrakt. Ebenso, wie vollkommen klar ist, daß nie jemand selbst einen Unfall hat. Es sind immer die anderen, denen dieses dilettantische Malheur passiert. Natürliche Auslese sozusagen.
So und nicht anders können die Zahlen interpretiert werden, die gestern vorgelegt wurden. Und die Prognose ist einfach. Die 57 Leichen, die im ersten Jahresdrittel auf der Strecke der Unfalltoten blieben, lassen sich einfach hochrechnen auf Zahlen, die mit Gewißheit über denen von 1990 liegen werden. Der ostwestliche Autowahn wird die Bevölkerungszahlen der künftigen Metropole eben auf ein erträgliches Maß reduzieren. Dazu kommt, daß diese Statistik nichts darüber aussagt, daß nicht nur die Zahl der Verkehrsunfälle steigt, sondern daß auch die Verletzungen, die die Menschen sich mit dem Gaspedal zufügen, immer schwerer werden. Alle Ampeln auf Grün zu schalten, würde diesen Prozeß heftig beschleunigen. Heide Platen
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