bücher aus den charts : Nasen im Wind
Auf die Frage, ob sein Buch „Das Methusalem-Komplott“ nur deshalb entstanden sei, weil er selbst Probleme mit dem Altern habe, antwortete Frank Schirrmacher in einem Interview mit dem Tagesspiegel in ambivalenter Offenheit: „Ich konnte das Buch nur jetzt schreiben. Zehn Jahre später hätte man es nicht mehr wahrgenommen, weil der Prozess des globalen Alterns längst Alltagserfahrung geworden wäre – und ich in der Tat nur noch als Handlungsreisender in eigener Sache wahrgenommen würde.“ Mit anderen Worten: Schirrmacher ist gern ein Visionär, aber nur ungern einer, der seiner Zeit zu weit voraus ist. Deshalb hat er auch kein Buch über die Genom-Forschung geschrieben, sondern eines über die alternde Gesellschaft und damit mitten ins „Tagesschau“-Schwarze getroffen: „Das Methusalem-Komplott“ steht auf Platz eins der Sachbuch-Bestsellerliste.
Gerade Sachbuch-Bestseller brauchen den richtigen Zeitpunkt, um genau solche zu werden: Sie sind immer Bücher zur Zeit und spiegeln Themen, die eine Gesellschaft aktuell und intensiver als andere beschäftigen. Man denke nur an die Aufarbeitung der NS-Zeit in Form von Familienromanen und Autobiografien, in denen es nicht nur um die Schuld, sondern auch das Leid der Deutschen während der NS-Zeit geht, von Jörg Friedrichs „Der Brand“ bis zu Wibke Bruhns’ „Meines Vaters Land“. Fragt sich nur, warum Bücher mit demselben Thema unterschiedlich erfolgreich sind: Thomas Medicus beispielsweise steht mit seinem Buch „In den Augen meines Großvaters“ nicht in den Top 50 der Charts. Da kommt dann wohl ein bunter Strauß medialer Faktoren ins Spiel, Elke Heidenreich, Brigitte-Besprechungen, die richtige Werbestrategie etc.
Auch so ein Buch zur Zeit ist Jörg Blechs „Die Krankheitserfinder“, das seit seinem Erscheinen im August 2003 ununterbrochen in den Bestsellerlisten steht. Die wachsende Skepsis gegenüber der modernen Medizin macht’s möglich, die Diskussionen um Gesundheitsreform, Lifestyle-Medikamente und dergleichen mehr. Der Spiegel-Wissenschaftsredakteur Blech erläutert nämlich in dem Buch, wie der medizinisch-industrielle Komplex an einer kranken Gesellschaft interessiert ist, an einer „Medikalisierung des Lebens“.
Vor allem die Pharmaindustrie arbeitet da nicht anders als, sagen wir, die Industrien der Kommunikationstechnologie. Wer kein Handy hat oder nur ein altes, dem muss klar gemacht werden, dass er eins braucht oder sich demnächst ein Fotohandy anschaffen sollte. Wer noch nicht krank ist oder sich krank fühlt, muss wissen, dass er es bald ist und so manche von der Pharmaindustrie entwickelte Pille dringend benötigt. „Werben, bis der Patient kommt“, nennt Blech das und erläutert in elf nach Art der Spiegel-Titelgeschichten geschriebenen Kapiteln, wie wir zu Patienten gemacht werden. Ob Reizdarmsyndrom oder Cholesterinämie, primärer Bluthochdruck, erektile Dysfunktion oder Menopause – es gibt viele „Krankheiten“, die keine sind oder nicht zwingend einer Medikalisierung bedürfen.
Nicht selten beruhen sie auf Moden in der (oft von der Pharmaindustrie finanzierten) Forschung und Medizin: Der Mythos vom bösen Cholesterin, der zu der Entwicklung von Cholesterinhemmern geführt hat, laut Blech „wahre Geldmaschinen auf dem Pharmamarkt“. Oder die Hormonsubstitution während der Menopause, die sich inzwischen als gefährlicher Trugschluss erwiesen hat. Die Pharmaindustrie steht selbstredend immer bereit, gegen Medikamenten-Nebenwirkungen neue Medikamente zu entwickeln.
Man kann leicht paranoid werden nach der Lektüre von „Die Krankheitserfinder“, gerade hypochondrisch veranlagte Menschen sollten sich vorsehen (gehen vielleicht aber auch in sich!). Beruhigend nur, dass Blechs Buch natürlich nicht ohne die Hilfe einer Vielzahl von besonnenen Medizinern zustande gekommen ist.
GERRIT BARTELS
Jörg Blech: „Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden“. S. Fischer, Frankfurt/Main 2004, 256 S., 18,90 Euro