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Nahreise Berlin Der Engel über Berlin

Berlin ist flach wie ein Kuhfladen. Ein Schweizer und eine Bayerin testen die Stadt und erobern Gipfel um Gipfel.

Die Siegessäule inmitten des Tiergartens. Bild: dpa

Irma aus Bayern hat ihren Besuch angekündigt, und ich will mit ihr die Ahrensfelder Berge erklimmen. Diese Felsformation im Stadtteil Marzahn soll zu den reizvollsten Naturwundern der City gehören, hat mir Joe, mein einziger Bekannter aus Berlin, erzählt. Viel eindrucksvoller noch als der weltberühmte Kreuzberg.

Auf dem Stadtplan sah alles nah und einfach aus. In Wirklichkeit aber ist Marzahn, im Ostteil der Stadt, erstaunlich weitläufig, stellen Irma und ich fest, als wir uns in einer riesigen Plattenbausiedlung verirrt haben. Doch es schadet ja nichts, sich hin und wieder zu verlaufen. „Viele Wege führen zum Gipfel des Berges“, lautet ein Sprichwort aus dem Alten China. „Aber die Aussicht bleibt immer die gleiche.“

Was interessieren mich Ku´damm, Brandenburger Tor und Fernsehturm? Ich begeisterte mich für die Berge, für Fondue, für den FC Basel und für die Kultur des Alten China. Prompt landen Irma und ich auf der Suche nach den Ahrensfelder Bergen im Fernen Osten. Im „Erholungspark Marzahn“ lustwandeln wir im „Garten des wiedergewonnenen Mondes“, in dem die altchinesische Kultur wie im Paradies gedeiht.

Erst bin ich noch ein bisschen verärgert, weil wir das Gebirge nicht gefunden haben. Aber an einem Weiher, in dem Goldfische schwimmen, können wir auf der Terrasse eines Prachtbaus zwischen mehr als 20 Sorten Grüntee wählen. Hier sei alles original chinesisch, beteuert die Kellnerin im japanischen Geisha-Kostüm. Das gesamte Material für den Park, vom Felsbrocken bis zum Holztisch, sei in 100 Containern aus China eingeschifft worden. 

Module der Berliner Mauer

Im Gegenzug exportiert Berlin seine Geschichte in die Welt hinaus: Abseits der Blumenbeete stoßen wir auf riesige Betonplatten. „Module der Berliner Mauer“, klärt uns ein Gartenarbeiter auf, „echt original.“ Erst gestern habe ein Unternehmer aus Kiew ein Stück gekauft.

Eine faszinierende Stadt, diese Schwoobeland-Metropole Berlin. Und dennoch ist es Irma und mir hier zu flach. „Nur wer auf die Berge steigt, kann die Höhe des Himmels ermessen“, wissen wir als Liebhaber der Alpen. In Berlin aber sind sie verdammt gut versteckt. Die Ahrensfelder Berge jedenfalls finden wir selbst nach der Stärkung bei den Chinesen nicht.

„Woascheinlich sans so kla, dos mas goaned sieht“, spottet Imra. Wir brechen die Expedition ab. Man darf auf Touren durchs Gebirge nichts erzwingen. Das führt nur zu Unfällen. Und so begeben wir uns schließlich nach Moabit, zu Joes Geburtstagsparty. Als wir am nächsten Mittag unseren Rausch ausgeschlafen haben, beschließen wir, den Teufelsberg zu erklimmen. „Der ist wirklich sehr leicht zu finden“, versichert uns Joe. Seine Geschichte: Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Stadt in Trümmern.

Fast die Hälfte der Gebäude war zerstört. Größere Steine und Ziegel wurden zum Wiederaufbau verwendet. Wohin aber mit den rund 80 Millionen Kubikmetern Schutt? Man beschloss, die zerstörten Häuser zu Bergen aufzuschütten. Die „Trümmerfrauen“ wurden Legende. Später bepflanzten die Berlinerinnen und Berliner die mehr als 20 Trümmerberge, die sie „Mont Klamott“ nannten: Klamottenberge aus allem möglichen Zeug. Einer dieser Berge ist der 114,7 Meter hohe Teufelsberg, der höchste Gipfel Berlins.

In den 1930er Jahren wollten die Nationalsozialisten hier ihre Militär-Hochschule errichten, als Zentrum der geplanten Welthauptstadt „Germania“. Nach dem Zweiten Weltkrieg sprengten die Alliierten die Rohbauten, darauf wurde ein Trümmerberg aufgeschüttet. Später nutzten die Berliner das Gelände als Mülldeponie: 20 Jahre lang wuchs der Berg auf dem Betonfundament der Nazis: Am Ende lagerten hier 26 Millionen Kubikmeter Schutt und Abfall.

„Dann entschied sich der Senat für eine typische Berliner Lösung“, sagt Joe und grinst: „ein Freizeitparadies.“ 180.000 Bäume wurden auf dem Müllberg gepflanzt. Eine Rodelbahn, ein Skihang mit Sprungschanze und Schlepplift sowie ein Kletterfelsen verwandelten das Gebiet in einen Erlebnispark. Und schon Anfang der 1960er Jahre richteten die West-Alliierten auf dem Berg eine Abhöranlage ein. Getreu dem Motto: „In God we trust; all others we monitor.“

Die futuristisch anmutenden Radaranlagen, umzäunt und streng bewacht, konnten bis weit hinein in das Gebiet des Warschauer Paktes lauschen. Der Skilift musste weichen, da sein Betrieb die Funkanlage gestört hätte. Seit der Wende verfallen auch die Radaranlagen. Dennoch blieb der Berg ein reizvolles Ausflugsziel, für Wildschweine, Hasen und anderes Getier; amerikanische und britische Militärs in voller Montur, zu Fuß oder im Jeep.

Mountainbiker, Gleitschirmflieger, Jogger, Wanderer, Familien mit Picknickkörben – und oben die Spione: Der Teufelsberg hatte für alle Platz. Zur 750-Jahr-Feier Berlins gab es 1987 sogar einen Weltcup-Slalom auf dem Skihang. „So sind wir Berliner“, sagt Joe. „Wir würden noch den Weltuntergang als Party feiern.“

Ein Engel erscheint

Irma und ich finden den Teufelsberg schließlich wirklich. Wir spazieren durchs Gehölz, vorbei an einem Weiher, an dem zwei Mütterlein Enten füttern. Dann schreiten wir forsch bergan. Der Pfad wird schmaler. Und ausgerechnet an der Stelle, weit oben auf dem Teufelsberg, wo er kaum mehr zu erkennen ist, geschieht ein Wunder. Ein Engel erscheint uns.

Plötzlich steht er da, in einem schneeweißen Kleid mit Fellborte und blitzsauberem weißen Kinderwagen. Der Engel lächelt. Irgendwo habe ich ihn schon einmal gesehen, denke ich. Das Kind im Wagen beginnt zu schreien. Da lächelt der Engel nicht mehr und trippelt an uns vorüber. Irmas Wangen röten sich, sie scheint plötzlich außer sich.

„Hostas g‘sehn? Die Schröderin!“ Berlin ist voll mit Promis. Und hier oben führt eben gerade die glamouröse deutsche Familienministerin ihren Nachwuchs aus. Ihr Pech: Meine Freundin Irma arbeitet bei der Regenbogenpresse. Jetzt zückt sie ihr Handy und mir wird klar: Irma wird erst wieder entspannen, wenn sie als Paparazza reüssiert hat. „Tiere geh‘n imma – und Promis mit Kindern geh‘n a imma“ , flüstert sie aufgeregt.

Sie kombiniert messerscharf. Unten, auf dem Parkplatz im Tal, würde die Familienministerin samt Kind bald wieder auftauchen. Wir hasten bergab, und Irma gibt Anweisungen. Ich müsse mich so positionieren, dass sie so tun könne, als ob sie mich fotografiere, die Ministerin aber trotzdem von ihrer iPhone-Kamera erfasst würde, wenn sie gleich käme. Nach zehn Minuten schlafen mir die Füße ein.

Ich gähne. „Na, dann“, will ich gerade zum Aufbruch drängen, als ein Lichtschein den Parkplatz erhellt und der Engel ein weiteres Mal in unsere Mitte tritt. Irma fotografiert wie eine Berserkerin. Doch als wir die Bilder angucken, bin auf allen ich zu sehen und nur am Rand taucht mal eine Fußspitze der Familienministerin auf. Irma ist sauer. „Los!«, brüllt sie und rennt voraus zu unserem Mietwagen.

Wir nehmen die Verfolgung auf. Schon erspäht sie die Schröderin am Straßenrand. Wir überholen, stoppen abrupt, reißen die Wagentüren auf, springen raus – und schlendern so zwangslos wir können der Lichtgestalt entgegen. Sympathisch lächelnd stellt sich Irma vor, nennt den Namen ihrer Illustrierten, und wir fragen höflich, ob wir ein Foto machen dürfen. Die Ministerin lächelt zurück. Dann sagt sie: „Nein!“, macht auf dem Absatz kehrt und trippelt, den Kinderwagen vor sich herschiebend, davon.

Irma und ich sehen einander an. Was haben wir bloß falsch gemacht? „Die Welt ist ein Berg, und alles, was man je von ihr zurückbekommt, ist der Widerhall der eigenen Stimme“, zitiere ich eine Weisheit des persischen Mystikers Mevlana Rumi. „Schmarrn!“, sagt Irma. Und in der Tat: Selbst dieses globale Grundprinzip scheint in Berlin nicht zu gelten.

Till Hein, der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 04/2012. Das Buch zum Text „Der Kreuzberg ruft!“ ist im be.bra verlag erschienen.