: Nähmaschine und Vibrato
■ Silvesterkonzert mit jeder Menge Wiener Klassik von der Böhmische Philharmonie: Schön gespielt, nur leider ziemlich veraltet
Kann etwas wirklich gut sein allein aus dem Grund, weil es immer so war? Wohl kaum. Kann etwas schlecht sein, weil neue Erkenntisse nicht verarbeitet werden? Schon eher. Das Konzert mit der Böhmischen Philharmonie bringt die Kritik in ein Dilemma: Was soll man zu einem Konzert sagen, daß nicht so schlecht ist, daß einem Argumente gegen die Interpretation einfallen würden, daß aber auch nicht so gut ist, daß Argumente dafür auf der Hand lägen. Eher hat so ein Konzert wohl auch eine soziale Funktion: ein Toptermin ist Sylvester 18 Uhr. Vorm Tafeln „Wiener Klassik“, das klappt, die Glocke ist bis zum letzten Randplatz ausverkauft. Und das Publikum besteht weitgehend aus Menschen, die sich eher selten in ein klassisches Konzert begeben: während sonst die nach jedem Satz eifrig Applaudierenden mit einem „Tzsch!“ganz schnell niedergemacht werden und sich ob ihrer Unwissenheit meist erschreckt umgucken, behielten sie hier die Oberhand. Der Dirigent Leos Svarovsky erhielt nach jedem Satz nahezu so viel Beifall wie am Ende.
Man kann in dem satten Klangvolumen des Orchesters wohl noch etwas hören vom schwungvollen Glanz böhmisch-tschechischer Musikkultur, so wie sie in den mitreißenden Sinfonien Anton Dvoraks wohl ihren stärksten Ausdruck findet. Nur: mit den Transparenz- und Artikulationsanforderungen der „Wiener Klassik“ist das nicht unbedingt kompatibel und schon gar nicht mit Johann Sebastian Bach. Dessen Doppelkonzert für zwei Violinen und Orchester gibt denn doch Anlaß zur Kritik: knalliges Vorwärts, was wir früher einmal mit „Nähmaschinenbarock“bezeichnet haben, und im langsamen Satz durch die beiden ersten Geiger des Orchesters derartig viel süffiges Vibrato, daß die ineinander verflochtenen Linien nicht die geringste Chance hatten, sich horizontal zu entfalten. Daß Forcierung – im langsamen Satz so eine Art Überexpression und in den schnellen Sätzen zackiges Tempo – einen solchen Ansatz retten könnte, erwies sich leider als eine Illusion.
Bleiben die Kernwerke des Abends, eben „Wiener Klassik“: Mozarts Ouvertüre zu „Die Hochzeit des Figaro“ist ein Spiegelbild der 1786 gründlich verunsicherten und durcheinandergewirbelten Gesellschaft. Svarovsky entschied sich – auf der Grundlage überzeugender Tempi – eher für einen satten sinfonischen Sound. Nicht anders in der Wiedergabe der dritten Sinfonie von Franz Schubert und der großen Jupiter-Sinfonie von Mozart. Es fehlten Klangfarben, Nuancen und grundsätzlich eine sprachliche Auffassung der Musik. Stattdessen eine vorwärtsdrängende melodische Konzeption. Die ist nunmal eben vollkommen überholt, auch wenn die Böhmische Philharmonie unter ihren Voraussetzungen mehr als ordentlich gespielt hat. Ute Schalz-Laurenze
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