Nächtliches Schweigen: Stadt der Träume
Am Flughafen Narita kostet das Erfrischungsgetränk aus dem Automaten genauso viel wie in den Vororten. Ein Streifzug durch Tokio
Tokio ist die Stadt der Träume. Tokio ist nicht modern. Tokio ist romantischer als Paris, es ist in seinen Gassen abseits der Hauptstraßen italienischer als Mailand oder Florenz und so unschuldig, wie wir es zuletzt vor dreißig Jahren gewesen sind. Tokio ist nicht die Zukunft, Tokio ist das, was wir verloren haben.
Die Leere ist das Herz
Es ist fünf Uhr morgens, und es ist nichts zu hören außer dem Summen der Klimaanlage. Es ist Samstagnacht, aber die Straßen von Ningyocho liegen verlassen da. Ich kenne keine Großstadt, die nachts so vollkommen schweigt, so selbstvergessen durch die Nacht zieht wie Tokio.
Die große Jagd nach dem Vergessen, dieses aus tausend Autoschlangen, dunklen Bässen und schnell gerauchten Zigaretten bestehende hektische Abtauchen ins Nachtleben, gibt es in Tokio nicht. Das eigene Ich leidet hier nicht, zumindest leidet es anders als in Berlin, Paris oder New York. In Tokio ist sogar der Selbstmord kollektiv, die Verzweifelten stürzen sich zur Rushhour auf die Gleise, wählen die meistbefahrenen U-Bahn-Linien.
Fünfzehn Minuten Wartezeit als stumme Klage über eine Suche nach Liebe, die von den Anderen nicht erwidert worden ist. Das eigene Ich als Leere, der die Familie, die Freunde, die Arbeitskollegen erst die Form verleihen.
Luxus pur: Mit der Prachtstraße Omotesando kann es kaum eine andere Luxusmeile der Welt aufnehmen. Prada, Armani und Louis Vuitton, präsentiert in Läden, die internationale Architekturpreise gewonnen haben und das Herz jedes Götzenanbeters garantiert höher schlagen lassen. Omotesando, Aoyama, Tokyo, U-Bahn-Haltestellen Z02, C04, G02.
Schrill und (zu) jung: Tokios Stadtteil Shibuya bietet nicht nur die trendigsten Modeläden (schreiende Verkäuferinnen und Rockmusik inklusive), sondern auch die größten Videowände, die schönsten Love-Hotels und die kürzesten Röcke Japans. Shibuya, Tokyo, U-Bahn-Haltestellen Z01, G01.
Oase der Ruhe: Die Kiyosumi Gardens in Fukagawa stammen aus der Edo-Zeit und gehörten damals dem Multimillionär Kinokuniya Bunzaemon. Heute kann sich hier auch der gewöhnliche Sterbliche erfreuen. Kiyosumi Teien, 3-3-9, Koto-ku, Tokyo, U-Bahn-Haltestellen E14, Z11, 9-17 Uhr.
Für Nachtfalken: Wer hier steht, hat den Überblick und genießt das Lichtermeer zu seinen Füßen. Das "Tokyo City View" im 52. Stockwerk des Mori Tower bietet einen Rundumblick aus 218 Meter Höhe und Bilder, die im Gedächtnis haften bleiben. Roppongi Hills Mori Tower 52F, 6-10-1 Roppongi, Minato-ku, Tokyo, U-Bahn-Haltestellen H04, E23, 10-23 Uhr.
Cameron Diaz in Shibuya
Was treibt die Menschen in Tokio an, wovon träumen sie? Und was hindert sie daran, ihre Träume zu leben? Denn es geht um Mehrwert, um zusätzliche Akkumulation, die zu neuen, immer größeren Investitionen und Fusionen benötigt wird, auch hier in Tokio. Und deshalb blickt Cameron Diaz auch in Shibuya mit einem Mobiltelefon in der Hand auf uns herab, entschlossen und dennoch geheimnisvoll, und deshalb tragen auch die Hochhäuser im Nobelviertel Ginza die Namen der großen Konzerne: Merrill Lynch, Cartier, Apple.
Doch der japanische Kapitalismus ist anders, weil er zwar ebenfalls große Monopole erzeugt, diese aber in erster Linie nach außen wirken und nicht nach innen. Am Flughafen Narita kostet das Erfrischungsgetränk aus dem Automaten genauso viel wie in den Vororten, der Mensch wird hier noch nicht mit der kühlen Entschlossenheit abgezockt, die in unserem neuen, so humanen Europa an der Tagesordnung ist. Die Menschen hier unterwerfen sich den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, doch sie bekommen im Gegenzug noch etwas dafür: Respekt, hohe Gehälter, bezahlbare Waren. Es ist tatsächlich so: Eine Stadt wie Mannheim hat es mittlerweile geschafft, teurer zu sein als Tokio, ganz gleich ob wir einen Hamburger bei McDonalds, Turnschuhe, einen Cappuccino, Bücher oder eine Fahrt mit dem Bus als Maßstab heranziehen.
Die japanische Wirtschaft hat jahrzehntelang massiv exportiert, ohne sich im Gegenzug den Waren der globalen Konkurrenten zu öffnen. Das Resultat sind hohe Preise, hohe Gehälter und ein Wohlstand, der sich in hoher Leistungsbereitschaft und Produktivität niederschlägt. Und in der Bereitschaft der Konzerne, die Gewinne wenigstens ein Stück weit mit jenen zu teilen, die sie erwirtschaften. Japan ist eine frühkapitalistische Nische, eine zur Festung ausgebaute hoch technisierte Oase, Japan ist das Gegenmodell zur Globalisierung unter amerikanischer Führung. Und dieses Modell funktioniert. Noch.
Mitsukoshi
Es riecht nach Wachs, nach dem schweren Parfum der Kundinnen, nach Unbeschwertheit und einem Leben, das lebenswert ist. Mitsukoshi ist das schönste Kaufhaus im Bezirk Nihonbashi, die Verkäufer tragen dunkle Anzüge, im Foyer steht ein Pianoforte, und die Emporen der sieben Stockwerke enden in einer Jugendstilkonstruktion aus Glas und Silber. Ich stehe auf der Rolltreppe, ganz links, und schließe die Augen. Diesen Geruch gibt es bei uns nicht mehr. Wir kennen nur noch die tristen, durchnormierten, in jeder Stadt gleich aussehenden Kaufhallen, in denen grau und freudlos die Technik vergöttert wird und sich jedes Lächeln erübrigt. Hier, im angeblich hochmodernen Japan, sprechen die Verkäufer kein Englisch, es gibt keine Detektoren, und alles wirkt so, als habe jemand das gute alte Europa in das Jahr 2008 hinübergerettet. Mitsukoshi ist Tokio, denn Tokio ist weitaus romantischer und weitaus weniger modern als unsere europäischen Städte. Modern, das bedeutet nicht, große LCD-Schirme an belebten Plätzen aufzustellen. Modernität bedeutet, den Glauben an das Gute, an den großen, übergreifenden Sinn verloren und auf die daraus resultierende Verzweiflung eine Antwort gefunden zu haben, und so gesehen ist Tokio nicht modern, sondern unschuldig, naiv, kindlich fast. So wie die Menschen hier.
Aoyama, ein Hochhaus, fünfter Stock und vier Arbeitskollegen, die ihre Sakkos ausgezogen, die Krawatten und die Lackschuhe aber anbehalten haben. Sie spielen Tischtennis, feuern sich gegenseitig an und lachen zwei Stunden lang ununterbrochen. Keine Gespräche über den nächsten BMW oder darüber, was bei der Arbeit nicht geklappt hat, keine Blicke zu den Mädchen, die mit ihren Freunden an den anderen Tischen spielen. Einfach nur vier Jungs in Hemd und Krawatte, die Tischtennis spielen. An einem Freitagabend in Tokio.
Nicht weit davon entfernt streifen die Schulmädchen gerade durch das Kaufhaus Shibuya 109. Sie tragen Miniröcke, genau wie die Verkäuferinnen, die auf Plüschwürfeln stehen und laut schreiend eine Mode anpreisen, die schrill und provinziell zugleich ist. Das hier ist nicht H&M in Malmö, nicht Zara in Valencia, das hier ist laut, überfüllt, jung, fast nicht auszuhalten, vor allem aber kindlich, naiv und unerotisch, trotz der kurzen Röcke und der Stöckelschuhe.
Zwei Straßen weiter hält eine junge Frau gerade einen betrunkenen Arbeitskollegen zurück, der grinsend auf sein Handy stiert und dabei ist, bei Rot über die Straße zu gehen. Sie sind zu sechst, und die anderen vier lachen. Es ist noch früh am Abend, vielleicht gehen sie später in eine Karaokebar, vielleicht werden sie aber auch in einem kleinen Restaurant landen und die Flasche kreisen lassen. Einer von ihnen wird bestimmen, wer wen wie zu küssen oder zu streicheln hat, und ein paar von ihnen werden schließlich zu einem Love-Hotel hier in der Nähe aufbrechen und für knapp viertausend Yen ein paar Stunden sanftes Vergessen kaufen.
Lost in Translation
Wir hier in Europa gehören den US-Amerikanern mit Haut und Haaren, unsere selbst ernannten Eliten blicken unterwürfig nach New York und Washington, und nur deshalb darf Tokio, darf Japan nicht als das erscheinen, was es ist: als mögliche Alternative auf dem Weg in die kapitalistische Endzeit. Kein Wunder also, dass wir in unseren Filmen, Büchern und Zeitungsartikeln die Japaner als kauziges Völkchen dargestellt finden, das in Schlaftorpedos nächtigt, in der U-Bahn Schutzmasken trägt und sich, elektronische Küken fütternd, zu Tode schuftet. Unser Kapitalismus ist schließlich der verhältnismäßig beste und unser Humanismus der Gipfel menschlicher Kultur. Zumindest sollen wir das glauben. Nur dass wir dabei das Wichtigste verloren haben: unsere Unschuld, unsere Naivität und unsere Träume.
Sterne über Roppongi Hills
Da stehe ich also und blicke hinaus in die Nacht, umgeben von der sanften Dunkelheit, die hier im 52. Stockwerk des Mori Tower so spät am Abend nur noch ein paar Verliebte mit mir teilen. Ich blicke hinaus, auf die Millionen Lichter, auf die endlosen Straßenzüge, auf die schimmernden Hochhäuser und die vibrierenden Grau- und Schwarztöne zwischen ihnen. Ich denke an die Menschen da draußen, an die schwarzen, immer gleichen Anzüge der Geschäftsleute, an die müden Köpfe in der U-Bahn, an die großen Augen der Kinder im Yoyogi-Park, an den Stolz der Polizistinnen vor dem Mandarin Oriental Hotel und an die groben, sonnengebräunten Hände des schlafenden Landstreichers an der Hatchiko-Kreuzung in Shibuya. Ich gehe die großen, abgerundeten Glasscheiben entlang und sehe hinaus, blicke hinunter auf die Stadt.
Tokio, das ist die Stadt der Träume. Der Träume, die in Erfüllung gehen. Der Träume, die nicht in Erfüllung gehen.
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