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Nachträgliche SicherungsverwahrungWas zu viel ist, ist zu viel

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt einem mehrfach Vorbestraften recht, der gegen seine nachträgliche Verwahrung aus Sicherheitsgründen geklagt hatte

Von der Entscheidung sind in Deutschland mindestens 70 weitere Personen betroffen. Bild: ap

Ein deutscher Rückfalltäter hat bei Europas Menschenrechtsgericht erfolgreich gegen seine andauernde Sicherungsverwahrung geklagt. Deutschland durfte die Befristung der Sicherungsverwahrung nicht rückwirkend aufheben. Dies entschied jetzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Der Kläger erhält 50.000 Euro Schadensersatz.

Sicherungsverwahrung - das ist die 1933 eingeführte Sicherungshaft nach der Strafhaft. Hier kommt ein Häftling nach Verbüßung seiner Strafe nicht frei, sondern muss aus Sicherheitsgründen weiter im Gefängnis bleiben - bis er nicht mehr als gefährlich gilt. Zwar sind derzeit in Deutschland nur knapp 450 Menschen davon betroffen (im Vergleich zu über 60.000 Strafgefangenen). Die Zahl der Verwahrten hat sich in den letzten Jahren aber fast verdoppelt und wird vermutlich weiter steigen.

Geklagt hatte der heute 52-jährige Rückfalltäter Reinhard M., der in Schwalmstadt (Hessen) einsitzt. Zuletzt war er 1986 wegen eines versuchten Raubmordes zu fünf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Damals konnte diese Maßnahme laut Gesetz nur für zehn Jahre verhängt werden, jedoch hob der Bundestag im Jahr 1998 diese Befristung auf. Die Folge: M. wurde nicht, wie von ihm erwartet, im Jahr 2001 aus dem Gefängnis entlassen, sondern sitzt bis heute in Schwalmstadt.

Zunächst legte M. deshalb Verfassungsbeschwerde ein und berief sich auf eine Klausel im Grundgesetz, wonach es verboten ist, Strafgesetze rückwirkend anzuwenden. Niemand dürfe härter bestraft werden, als es zum Zeitpunkt der Tat im Gesetz vorgesehen war. Doch das Verfassungsgericht wies M.s Klage 2004 zurück. Die Richter stellten einstimmig klar, dass das Rückwirkungsverbot nur für die eigentliche Strafe gilt. Die Sicherungsverwahrung sei aber keine Strafe, sondern diene ausschließlich der Verhütung zukünftiger Rechtsbrüche. Mit sechs zu zwei Richterstimmen erklärte Karlsruhe außerdem, dass M. auch keinen sonstigen "Vertrauensschutz" genieße.

Doch M. gab nicht auf und rief den EGMR an - das Gericht des Europarats, dem 47 Staaten angehören, zum Beispiel auch Russland und die Schweiz. Der EGMR gab dem deutschen Häftling nun recht. Deutschland habe 1998 gleich zwei Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt.

Zum einen sah Straßburg durchaus das Verbot rückwirkender Strafgesetze verletzt. Denn nach Auslegung des Gerichtshofs ist die Sicherungsverwahrung eben doch eine Strafe - auch wenn man das in Deutschland anders sieht. Die Freiheitsentziehung entspreche in ihrer Wirkung einer Haftstrafe und die Verwahrten seien auch gemeinsam mit Strafgefangenen untergebracht. Wie das Anti-Folter-Komitee des Europarats darstellt, sei die Sicherungsverwahrung zudem wegen des fehlenden klaren Endpunkts der Inhaftierung sogar besonders belastend. Eine spezielle psychologische Betreuung, die auf dieses Problem eingeht, fehle. Wenn die Sicherungswahrung aber wie eine Strafe wirke, so die Logik der Straßburger Richter, dann durfte sie für bereits Verurteilte nicht nachträglich verlängert werden. Außerdem sah der EGMR auch das "Recht auf Freiheit" verletzt, weil hier keine in der Konvention vorgesehene Einschränkung vorlag.

Von dieser Entscheidung sind in Deutschland mindestens 70 weitere Personen betroffen. So viele Gefangene sitzen länger als zehn Jahre in Sicherungsverwahrung und waren damit auch von der Rückwirkung des Gesetzes von 1998 betroffen. Sie bekommen zwar keinen Schadensersatz wie M., weil sie nicht in Straßburg geklagt haben. Deutschland muss diese Gruppe nun aber wohl bald entlassen - wenn nicht noch Rechtsmittel zur Großen Kammer des EGMR eingelegt werden.

Die Straßburger Entscheidung hat Auswirkungen auf eine andere Form der Sicherungsverwahrung. Seit 2004 darf sie auch nachträglich, kurz vor Entlassung, angeordnet werden, wenn sich erst in der Haft die fortdauernde Gefährlichkeit erweist (siehe rechts). Auch gegen diese Art der Verwahrung sind Beschwerden in Straßburg anhängig - nach dem jetzigen Urteil stehen die Chancen gut.

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10 Kommentare

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  • KK
    Klaus Keller

    @Kärcher Die rückwirkende Anwendung des Gesetzes wurde gerügt nicht die Sicherungsverwahrung als solche . Weil das heimische Verfassungsgericht glaubte eine Sicherheitsverwahrung sei keine Strafe, sondern nur freiheitsentziehemde Maßnahme hat es diese Praxis geduldet.

     

    Das Gericht hat sich nicht grundsätzlich gegen die Praxis der Sicherungsverwahrung ausgesprochen, sie können sich beruhigen.

     

    Noch einfacher, erst Gesetz dann Strafanwendung und nicht ich guck mal was passiert und mach dann im nachhinein ein Gesetz.

     

    PS ich geh davon aus man wird dem betroffenen sehr genau auf die Finger schauen so das er schnell wieder hinter Gitter kommt wenn er Mist macht, ggf begeht er noch in Haft eine neue Straftat wenn ihm die Steuerungsfähigkeit fehlt und er bekommt gleich Nachschlag.

     

    klaus keller hanau

     

    klaus keller hanau

  • S
    Sorokan

    @studi: Da habe ich mich wohl vertan, EuGH ist also nicht gleich emrk, danke. Aber laut Wikipedia ist das emrk in Deutschland nur auf dem Rang eines Bundesgesetzes, nicht auf Verfassungsrang, und steht es damit nicht automatisch unter dem BVerfG? Inwiefern hat dieses Urteil also tatsächlich Wirkung?

  • S
    studi

    @sorokan soweit ich weiß ist die emrk bindend für alle unterzeichner und einklagbar beim europäischen gerichtshof für menschenrechte in straßburg und steht über dem bundesverfassungsgericht. der von ihnen angesprochene EuGH sitzt in luxemburg und regelt glaube ich dinge die die europäische union betreffen inwiefern dessen entscheidungen bindend sind weiß ich nicht, die unterzeichner der emrk sitzen aber im europarat und die emrk ist einklagbar in straßburg und auf jeden fall verbindlich

  • A
    atypixx

    @ Sam Lowry

     

    Im Jahr 1933 wurde die Sicherungsverwahrung eingeführt, ja, aber z.B. auf Jugendliche ausgedehnt wurde sie erst unter einer SPD-Regierung. Im Übrigen ist es ziemlich allgemeiner Konsens, dass man (wirklich!) brandgefährliche Vergewaltiger, Totschläger u.ä. nicht einfach draußen herumlassen darf. Das ist an sich auch recht einleuchtend und hat mit "Nazitum" recht wenig zu tun.

  • S
    Sorokan

    Ist es tatsächlich so, daß eine Entscheidung des BVerfG durch den EuGH nichtig wird, wie im Artikel beschrieben? Meines Wissens nach ist das BVerfG zur Zeit noch letzte Instanz in Deutschland, also auch vor dem EuGH. Oder hat sich da in der Zwischenzeit etwas geändert?

  • BG
    Bernd Goldammer

    Das sowas erst in Strassbourg entschieden werden muss, zeigt wie verkommen der deutsche Rechtsstaat bereits ist. Für Verbrechen stehen Strafen in Gesetzbüchern. Und wenn die verbüßt sind müssen die Gefangenen frei gelassen werden. Die ach so "böse DDR" kam übrigens ohne einen solchen Nazi- Paragrafen aus. Ich glaube, dass die jetzigen deutschen Politikerbanden, die sich von ihren Pressekomplizen allzu gern als politische Klasse hofieren lassen, dieses Gesetz für harte Zeiten brauchen. Sie wissen natürlich genau, was die Folgen ihrer gegenwärtigen und künftigen Handlungen sein werden. Schließlich muss man dann auch politische Aktivisten im Knast verschwinden lassen. Presseprostitution in allen Facetten wird das ganze möglich machen.

  • SL
    Sam Lowry

    ...1933 eingeführtes Gesetz...wie viele andere Gesetze und Verordnungen...das sagt doch alles...

    und darauf berufen sich Gerichte...großer Gott...

    hat das niemals ein Ende ???

  • A
    atypixx

    Wie üblich ein guter Artikel von Rath, aber es fehlt m.E.

     

    1. ein Wort der Kritik vor allem an dem zeitlichen Abstand zwischen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im Jahr 2004 und derjenigen des EGMR (heute! ...) und vor allem

     

    2. eine Begründung dafür, dass nun die Chancen gut stünden, die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB zu kippen (jedenfalls generell und nicht "nur" für die Täter, die schon zu einer regulären Strafe verurteilt waren, bevor der § 66b ins Strafgesetzbuch eingefügt wurde).

  • K
    Kärcher

    Da frohlocken und jauchzen die linken Medien, wenn Raubmörder und Kinderschänder endlich wieder auf die Bevölkerung losgelassen werden. Was für ein Glückstag für alle! Vermutlich gibt es in der taz-Redaktion an so einem Tag Stollen und Glühwein.

    Wen interessieren denn auch schon die Opfer oder deren Angehörige. Über die liest man hier schließlich auch keine Artikel und wer darauf hinweist, dass diese entsetzliche Qualen erleiden, ist hier natürlich sofort ein - na ja wir wissen ja was.

  • S
    stimmviech

    Die Cleveren bleiben nicht lange da... http://www.youtube.com/watch?v=BhbCp_qvwJ0