piwik no script img

Archiv-Artikel

Nachträglich und lebenslänglich

„Gegen Emotionen, die mit Sexualtätern und Mördern verbunden sind, kommt man mit Statistiken schlecht an“„Gutachter haben kein Handwerkszeug, mit dem sie sicher feststellen können: Der Mann ist gefährlich“

VON MAREKE ADEN

Die Unterschiede sind nicht groß. Sie hängen zum Beispiel an der Wand. In der Justizvollzugsanstalt Tegel hängen an den Wänden von normalen Häftlingen weniger Bilder als in den Zellen von Sicherungsverwahrten. Die dürfen sich Fotos an die Wand hängen, so viele sie wollen, die einen bevorzugen Familienaufnahmen, die anderen hängen lieber ungerahmte und leicht bekleidete Mädchen über ihr Bett. „Daran erkennt man dann, ob jemand noch eine gewisse Außenorientierung hat oder nicht“, sagt ein Vollzugsbeamter. Die anderen Unterschiede kann man im Strafvollzugsgesetz nachlesen: Eigene Kleidung, Bettwäsche sind den Sicherungsverwahrten da beispielsweise ausdrücklich erlaubt. Allerdings ist das Gesetz fast 30 Jahre alt. Inzwischen flanieren auch alle anderen Häftlinge in ihren glitzernden und bunten Trainingsanzügen über den Gefängnishof. Neidisch werden könnten die „normalen“ Häftlinge höchstens wegen der eigenen Möbel in den Zellen des so genannten SV-Trakts. Aber unter der gesetzlichen Sondererlaubnis stehen die drei Wörter: „auf eigene Kosten“. Es gibt für Sicherungsverwahrte zwar auch etwas mehr Taschengeld. Für einen Einkauf im Möbelhaus reicht das nicht. Darum schlafen die Sicherungsverwahrten in Berlin alle in Eichefurnier-Betten, die die Anstalt umsonst stellt.

Dabei hatte der Gesetzgeber den Sicherungsverwahrten mit gutem Grund „besondere Haftbedingungen“ zugesprochen. Wer sicherungsverwahrt ist, bleibt nicht deswegen eingesperrt, weil er sich schuldig gemacht hat. Mindestens eine langjährige Haftstrafe hat er fast immer schon hinter sich, seine Schuld ist abgebüßt. Er ist zur Sicherung im Gefängnis. Gefährliche Menschen, meistens Mörder und Sexualstraftäter, die rückfällig wurden, kommen in Sicherungsverwahrung, weil das Interesse der Allgemeinheit, vor ihnen geschützt zu werden, mehr wiegt als ihre Freiheit. In Deutschland sind es rund 300. Wenn diese Männer – es sind nur Männer – aber der allgemeinen Sicherheit geopfert werden, dann, fanden die Gesetzgeber 1976, müsste ihren „persönlichen Bedürfnissen nach Möglichkeit Rechnung getragen“ werden.

Die „besonderen Haftbedingungen“, die ihnen das Gesetz zuspricht, bestehen in der JVA Tegel hauptsächlich aber in einem einzigen Ding: der Playstation. Nur Sicherungsverwahrte dürfen technische Geräte auf ihren Zellen haben. Manche spielen sich an ihrem Haftprivileg die Finger wund. Dieses eine große Privileg ist dann aber wiederum der Grund, warum sie in einem eigenen Trakt untergebracht sind: Ein graues Gitter trennt Sicherungsverwahrte vom Rest der Anstalt. Das liegt nicht an ihrer besonderen Gefährlichkeit. Sie selbst haben einen Schlüssel für die Gittertür und können jederzeit zu den anderen Häftlingen. Es geht darum, dass die weniger privilegierten Häftlinge nicht in die besser ausgestatteten Räume der Sicherungsverwahrten kommen. Es geht um den Neid, den die Playstation auslösen könnte.

In anderen Anstalten sind auch Haustiere erlaubt. In Naumburg sitzt der Mann, über dessen Fall das Bundesverfassungsgericht heute entscheidet (siehe Kasten). Frank O. hat nicht nur elektronisches Spielzeug und eigene Möbel, sondern auch einen Papagei. Das reicht nicht aus, um ihm die Haft erträglich zu machen. Seit 18 Jahren ist O. im Gefängnis, mit einer dreimonatigen Unterbrechung. Sein Tag der Entlassung – der TE, wie es unter Häftlingen heißt – hat im Jahr 2002 unmittelbar bevorgestanden. O. wurde schon im Gefängnis auf die Freiheit vorbereitet, und er hat sich auf die Freiheit gefreut. Aber O. hatte nach seiner vorigen Entlassung innerhalb von drei Monaten wieder versucht zu töten. Deswegen und wegen Berichten im Naumburger Tageblatt sahen die Politiker des Landes Sachsen-Anhalt seiner Entlassung mit unguten Gefühlen entgegen. Doch die damalige von der PDS geduldete SPD-Regierung hatte nichts in Händen, was sie gegen O. hätte unternehmen können. Seine Richter hatten in ihrem Strafurteil keine Sicherungsverwahrung vorgesehen.

Innerhalb von wenigen Wochen, gerade noch rechtzeitig vor O.s Entlassung am 19. März 2002, wurde es daraufhin fertig, das Gesetz, das auch eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zulässt. Während der Landtag tagte, verhandelte schon die Strafvollstreckungskammer, die das Gesetz anwendet. Der Bescheid, dass O. doch weiter im Gefängnis bleiben würde, kam einen Tag vor dem großen Tag von O.: dem TE, dem Tag der Entlassung, der keiner wurde. Er wird wahrscheinlich lebenslang hinter Gittern bleiben.

Im Grunde genommen, sagt Manfred Lösch, EKD-Beauftragter für die Seelsorge in den Justizvollzugsanstalten, müsste man den Sicherungsverwahrten ein möglichst normales Leben bereiten, wenn man sie schon wegsperrt, eines, das sich nicht wie Strafe anfühlt. „Ich könnte mir vorstellen, dass diese Leute auf einem Bauernhof leben“, sagt er. Die Beamten in der JVA Tegel sagen dazu, dass das dann ein Bauernhof mit einer sehr hohen Mauer sein müsste, und lachen dabei, denn so richtig können sie sich nicht vorstellen, dass ihre 15 besonders gefährlichen Täter an einem Ort leben, der nicht so gut gesichert ist wie ihr Gefängnis, und dass die es sich auch noch richtig gut gehen lassen sollen.

Manfred Lösch kennt solche Reaktionen. Selbst seine Frau fragt ihn manchmal, was er denn denken würde, wenn „so jemand“ seine Tochter umgebracht hätte, fragt sie ihn. „Gegen die Emotionen, die mit Sexualstraftätern und Mördern verbunden sind, kommt man mit Statistiken schlecht an“, sagt er. Dabei ist Lösch gar nicht prinzipiell gegen die Sicherungsverwahrung. Auch Lösch findet, dass man manche Menschen zum Schutz der Allgemeinheit sicher unterbringen muss, wie es im Gesetz heißt. Als Beispiel nennt er Leute, die von sich selbst sagen, dass sie für sich nicht einstehen können.

Aber Lösch will dieses Instrument begrenzen und merkt, dass es immer schwerer wird, gehört zu werden mit Argumenten wie: „Gutachter haben kein Handwerkszeug, mit dem sie mit Sicherheit feststellen können: Jawoll, der Mann ist gefährlich.“ Im Gegenteil: Alle Untersuchungen zeigten, dass die Fehluntersuchungsraten sehr hoch seien. In der Tat haben alle, die sich eingehender mit der Gefährlichkeitsprognose beschäftigt haben, beunruhigende Zahlen vorgelegt: Man müsste zehn gefährliche Täter festhalten, um sicher zu gehen, dass der eine, der rückfällig wird, eingesperrt bleibt. Noch problematischer finden die Wissenschaftler, dass die Wahrscheinlichkeit, Gewaltausbrüche vorherzusehen, dem Zufall sehr nahe kommt. Historisch belegt ist das durch einen Verfahrensfehler im US-Staat New York aus dem Jahr 1966. 967 Straftäter, die von Psychiatern als gefährlich eingestuft worden waren, mussten aus gesicherten Anstalten in normale Krankenhäuser oder ganz entlassen werden. Nur neun von ihnen haben eine danach schwere Gewalttat begangen. In 97 Prozent der Fälle hatten die Psychiater falsch getippt.

„Da wird schnell deutlich, dass die Kriminalitätsangst, die im Moment überall herrscht, nur ein Nebenschauplatz ist“, sagt Manfred Lösch. Der Ruf nach härteren Strafen à la „für immer wegsperren“ würde nur ablenken von den wahren Nöten der Republik, der wirtschaftlichen Unsicherheit und den großen Umbrüchen. Wenn man aber die Sicherungsverwahrten den diffusen Ängsten in Deutschland opfert, dann bitte möglichst human, findet Lösch, fürchtet aber, dass in den nächsten Jahren eher das Gegenteil eintreten wird. Die Entwicklung gehe im Moment „eher Richtung Gulag“.

Tatsächlich weiten sich die Möglichkeiten immer mehr aus. Die nachträgliche Anordnung, über die das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe heute entscheidet, verschärft die Lage von den Häftlingen, die für die Sicherungsverwahrung in Betracht kommen. Ob sie nach ihrer Haftstrafe sicherungsverwahrt werden, hängt davon ab, wie sie sich im Gefängnis verhalten. Im Naumburger Gefängnis hatte O. eine Therapie abgelehnt, weil er glaubte, sich zwischen einer begonnenen Berufsausbildung und den Sitzungen beim Psychiater entscheiden zu müssen. Für den Psychiater hätte er in ein anderes Gefängnis gemusst. Die Ablehnung diente trotzdem als Grund für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung. In Zukunft werden Straftäter sich also überlegen, ob sie Therapien ablehnen. Eine Therapie, die ein Täter allein aus Angst vor der Sicherungsverwahrung anfängt, ist aber zweifelhaft bis „Ressourcenvergeudung“, wie es der Professor am Institut für Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Charité, Norbert Konrad, ausdrückt.

Das Paradoxe an der neuen Regelung: Gerade die Menschen, vor denen sich die Allgemeinheit besonders fürchtet, schaffen es meistens, sich so zu verhalten, dass man ihnen nur schwer besondere Gefährlichkeit attestieren kann, berichtet Norbert Konrad: „Pädophile haben meistens früh gelernt, ihre Neigungen zu verstecken. Auch in der Haftzeit sind sie häufig unauffällig und angepasst.“ In Zukunft wird die Lösung dieses Problems wohl lauten: im Zweifel gegen den Häftling.