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SanssouciNachschlag

■ Jugend Theater Werkstatt Charlottenburg spielt „1789“

Der Trikoloren-Vorhang hebt sich, die Pankower Mädchenband „Monolith“ röhrt eine Hymne auf die Revolution. Eine zerlumpte Gestalt erscheint, auf dem Arm ein lebendes Huhn, das sie retten will. Später drängt sich Louis XVI. eng an seine Gemahlin, den hochmütigen Mund zur panischen Grimasse verzerrt. Starr weist der Postmeister von Varennes, weist das ganze Volk mit den Fingern auf den flüchtigen König. „Das ist eine Art, von der Revolution zu erzählen“, ertönt eine Stimme, „wir haben eine andere gewählt.“

Texte von Georg Büchner und Peter Weiss sind in „1789“ eingeflossen – ein Projekt, zu dem sich die Jugend Theater Werkstatt Charlottenburg von einer Improvisationsvorlage des ThéÛtre du Soleil aus den Siebzigern anregen ließ. Im Laufe der anderthalbjährigen Probenzeit verdoppelte sich die Zahl der MitspielerInnen unter der Regie von Reimar Brahms, erst am Ende kam die Band dazu. Die zweite Hälfte des Stücks wurde erst vor wenigen Wochen entworfen. Aus diesem kreativen Chaos ist ein sehr sinnliches Spiel hervorgegangen, vielschichtig in seinen Bedeutungen und mit einem klaren Stil. Das Publikum ist umzingelt von drei Podien und der Bühne: Die Revolution entfacht sich von allen Seiten. Vor dem Sturm auf die Bastille erhebt sich ein vielstimmiges Gewisper des Volkes, erzeugt von nur sechs DarstellerInnen. In der Pause wird ein Volksfest gefeiert, bei dem man kleine Puppen erwerben kann, um sie an Laternen zu hängen. Wie es dazu kam, wurde zuvor in Genreszenen von übermütigen Aristokraten, gemästeten Geistlichen und geschundenen Bauern geschildert. Die Szenen, die den historischen Stoff am meisten verfremden, sind die besten: Nicht die Schreie der Hungernden bleiben im Gedächtnis, sondern die clownesken Versuche dreier Bauern, eine Klage an den König zu richten: ohne Papier, ohne Kenntnis des Alphabets, mit Blut statt mit Tinte. Wie einer dem anderen zuraunt, bald würden die Abgaben abgeschafft, wie alle zusammen vor Freude hochspringen, bis einer ängstlich das Gesicht lang zieht und fragt: „Und die Salzsteuer?“ Wie dann der Tanz von vorne beginnt, bis alle drei entmutigt zusammensinken – das ist ein Theater, wie man es jungen Laien sonst kaum zutraut. Louis, Marie-Antoinette und Necker werden zu Maschinenmenschen mit durchgedrehter Mechanik. Und immer wieder taucht Isabelle auf, der dritte Stand, das Mädchen mit dem Huhn. Das Tier, das zum Inventar des Hauses der Jugend gehört, verhält sich bewunderungswürdig gelassen und souverän. Nach einer Guillotine-Show mit Saalkandidaten verschwindet es plötzlich, ein Tiefkühlhuhn wird statt dessen auf Campingkochern gebraten. Den makabren Einfall haben die Akteure aus Taboris „Mein Kampf“. Als Isabelles Lippen den Hühnchenschenkel berühren, geht das Licht aus. Ein Schluß, gemischt aus Schrecken und Hoffnung auf die Morgenröte nach der Revolution. Miriam Hoffmeyer

Weitere Aufführungen noch bis 8.3., 19 Uhr, Haus der Jugend Charlottenburg, Zillestraße 54-62

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