■ Nachschlag: Der Popjournalist Diedrich Diedrichsen hielt im BE einen Vortrag über Jugendkultur im Kapitalismus
Die Schlange reichte bis zur Friedrichstraße – im Berliner Ensemble zeigte man sich überrascht, reagierte dann aber kurz entschlossen ob des unerwarteten Andrangs: Die Lichtproben zu den „Lügen des Papageis“ wurden abgebrochen, die Feuerwehr wurde herbeitelefoniert – bis endlich der führende Theoretiker der Popkultur, Diedrich Diedrichsen, mit Vollbart und halblanger, merkwürdiger Frisur vor 400 Zuhörern ans Mikro treten konnte. Nach dem Modesoziologen Dirk Baecker versuchte sich der Popjournalist im BE an der „Kapitalschulung“: „DROGEN TECHNO SPORT – RISIKO UND REPRODUKTION IM POSTFORDISMUS“ so der verdächtig überladene Titel seines knapp zweistündigen freien Vortrages.
An der Unterscheidung zwischen Fordismus und Postfordismus in der kapitalistischen Produktionsweise versuchte Diedrichsen bestimmte „Befreiungsvorstellungen“ von der gesellschaftlichen Norm darzustellen, also wie zum Beispiel Junkies, Punks und Raver ihre praktischen Interessen auch als gegenkulturelle Entwürfe leben. Der Junkie, der „die vielen Abhängigkeiten durch die eine ersetzt“, wiederholt damit gleichsam die „Abhängigkeitslogik von der Maschine, an der alle hängen“. Konnte der Junkie früher noch Popstar sein, ist er heute, im Postfordismus, nur noch die verelendete „dünnbeinige Gestalt mit schwarzen Augenringen“, die allen alten Glamour (Nico usw.) vermissen läßt.
Früher, im Fordismus, waren die Punks von der Gesellschaft entkoppelte Körper, die nicht „schlaff wie die Junkies“, sondern undifferenziert und wild gegen die Norm angingen: „Das Betteln war noch faul und unverschämt, aber selbständige Tätigkeit.“ Angesichts der Massenarbeitslosigkeit sei dies nur noch ein Habitus, den kein Mensch mehr verstehen würde. Der entscheidende Unterschied, so Diedrichsen, sei der „arbeitende oder nichtarbeitende Körper“. Letzterer wird derzeit nicht mehr nur in Freizeitnormen diszipliniert, sondern vor allem kontrolliert. „Drei Punks in Stuttgart sind für die Polizei schon potentielle Chaos-Tage-Veranstalter und werden als solche behandelt.“ Allein die „kulturelle Zuschreibung“, die einen Punk als Punk erkennen läßt, reicht aus, die Polizei „administrativ tätig“ werden zu lassen.
Und die Raver? Hier scheint Diedrichsen ein bißchen den Kontakt zur aktuellen Jugendkultur verloren zu haben. Zwar weiß er, daß „noch nie so viele junge Leute so relativ ungehindert so viele Drogen“ genommen haben, die freundliche Kollektivität beim Technotanzen scheint er jedoch nicht zu kennnen. Interessant an Techno, meinte Diedrichsen abschließend, sei nicht die Tanzmusik, sondern seien „Sachen, wie Jim O'Rourke sie macht“. Im Gegensatz zum „reaktionären Ambiente“ versuche Techno „sowenig Referenzen wie möglich“ herzustellen. Diese „Abkopplung von jeder Referenzialität und Funktionalität“ läßt aber noch keinen Rückschluß auf den Habitus von Ravern zu, die durchaus auch gegenkulturell aktiv sind: Wie die Kollegen von „eve & rave“, die einen Kilometer weiter eine wunderschön hippieske Party im „Pfefferberg“ feierten. Andreas Frank
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