■ Nachschlag: Eva Kemlein, die Action-Fotografin des Berliner Nachkriegslebens
Ernst Busch sitzt mit verzücktem Gesichtsausdruck in einem Sessel. Neben ihm, nicht weniger entrückt, hockt sein struppiger Pudel Kiki. Herr und Hund hören eine Schallplatte und sind offensichtlich von der Musik so mitgenommen, daß sie kaum für die 125. Sekunde eines Fotos stillsitzen können. Eva Kemlein, die Fotografin dieser spannungsgeladenen Idylle, hält in ihren Porträts und Theaterbildern den Übergang von Ruhe in Bewegung fest. Die Fotografin, die seit 50 Jahren in Berlin arbeitet, versteht sich darauf, eine Szene abzulichten, ohne sie einzufrieren.
Eva Kemlein wurde in Charlottenburg als Tochter jüdischer Eltern geboren. In den 30er Jahren reiste sie durch Europa und blieb als Reportagefotografin eine Zeitlang in Griechenland. Aufgrund der Nürnberger Rassegesetze erhielt sie Berufsverbot und konnte ihre Fotos in Deutschland nicht mehr verkaufen. Trotzdem kehrte sie nach Berlin zurück. Sie begann mit politischer Untergrundarbeit und mußte sich die letzten Kriegsjahre versteckt halten. Nach der Befreiung Berlins begleitete sie mit ihrer Kamera die Neubelebung des Kultur- und Stadtlebens. Die Porträts und Straßenszenen, die weniger bekannt sind als Kemleins Theaterarbeiten, bilden den Schwerpunkt einer Ausstellung in der Galerie argus fotokunst.
Ihre Fotos aus den 40er und 50er Jahren zeigen den Wiederaufbau Berlins aus dem Geist der Weiblichkeit. Berlin war nach dem Krieg die Stadt der Frauen, suggeriert eine fröhlich-idealisierende Bilderfolge: Mutter Courages Töchter haben modische Frisuren und können zupacken. Sie schwingen die Maurerkelle, fertigen S-Bahnen ab und arbeiten als Tram-Schaffnerinnen. Immer sind sie in Bewegung, Stillstand darf es in den zerstörten Kulissen der ehemaligen Reichshauptstadt scheinbar nicht geben. Die heute 86jährige Eva Kemlein, deren Archiv mit 300.000 Negativen jetzt vom Stadtmuseum Berlin übernommen wurde, ist eine Action-Fotografin. Ruhe oder gar Melancholie sind rar, sowohl in ihrem bewegten Leben zwischen Ost- und Westberlin als auch in ihren Fotos: Ein Bild wie das Porträt einer Verkehrspolizistin im Regen aus dem Jahr 1948 wirkt inmitten all der dynamischen Arbeiten der Ausstellung daher besonders intensiv. Eine wunderschöne Frau mit weichem Blick, dick eingepackt in Jacke und Fäustlinge, steht als träumendes Monument auf einer menschen- und autoleeren Kreuzung in Berlin-Mitte. Ein kostbarer, verkehrsberuhigter Augenblick auf der Theaterbühne des wirklichen Lebens. Kolja Mensing
„Eva Kemlein. Leben und Theater in Berlin“, Galerie argus fotokunst, Mi.–Sa., 15–19 Uhr, So. 14–18 Uhr, Marienstraße 25
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