■ Nachschlag: Die Ahnung von Macht und Freiheit: „Caligula“ von Albert Camus im DT
Nichts. Rein gar nichts. Nicht das mindeste. Überhaupt nichts. So um die zwanzigmal gähnt das Loch der Nichtigkeit in den ersten Dialogen der Aufführung. Nichts hat man von ihm gehört. Seit dem Tod der inzestuös geliebten Schwester ist Caligula spurlos verschwunden. Acht imposante Männer in Anzug und schwarzem Umhang runzeln die Stirn. Vor den schwindelerregend hohen blaugrauen Mauern des Kaiserpalastes sind die besorgten Senatoren Ausbund imperialer Macht, Staatsmänner, wie sie im Buche stehen – abwägend, seriös, rational bis zum Umfallen. Caligula ist also weg. Noch wissen die grauen Eminenzen nichts von der geballten Kraft des ach so harmlosen Wörtchens, das sie hier als Running Gag im Munde führen. Denn mit dem Nichts tritt eine neue Größe aufs politische Parkett, das Aufleuchten einer überwältigenden Idee: die völlige Bedeutungslosigkeit des Bisherigen. Kaum zurück von seiner Trauertour, formuliert der junge Kaiser Gaius Caligula seine so banale wie schwerwiegende Erkenntnis: „Die Menschen sterben, und sie sind nicht glücklich.“ Sie wird den Imperator zum Monster machen, die Politik zur perversen Privatparty und Rom zum Tollhaus.
Martin Reinke ist Caligula, ein unrasierter Bohemien, fahrig, cholerisch, kindisch. Ganz allmählich wandelt er sich unter der Regie von Uwe Eric Laufenberg zum kühlen Dialektiker, Verfechter einer so irren wie messerscharfen Logik, für die der einzelne nichts, die Freiheit allerhand und der Spaß des Kaisers alles bedeutet. Statt in die wilde Orgie übersetzt der Regisseur den Umsturz mit schlagenden Bildern allmählicher Zersetzung. Ganz langsam und genüßlich gießt der Caesar ein Glas Champagner über den Schädel eines Senators. Die Vergewaltigung des Dichters Scipio kommt sogar ohne Bewegung aus. Penetration als Andeutung, als Pose, bei der die Niveadose mehr sagt als inflationäres Gerammel. Die Palasttafel wird bei Laufenberg zum Pommes-Bankett. Unter betretenem Schweigen mümmeln die Senatoren, Patrizier und Gattinnen aus der Tüte, gerät die Hautevolee mit Kochkäppchen kurzzeitig zum Personal der Fast- food-Kette. Bei solchen Szenen vermißt man die sporadischen Staubfänger aus dem Munde des existentialistischen Despoten, den Exempelcharakter eines Stückes, dessen Figuren Ideenträger und dessen Monologe manchmal reine Sentenzveranstaltungen sind.
Irgendwo zwischen Antike, Art deco und modernen Machtbehältnissen hat Christoph Schubiger einen riesigen, hohen Saal gebaut. Einen lichten, klaren Raum, den die Schauspieler bis zur nicht vorhandenen Decke in Besitz nehmen. Sparsam ausgestattet mit zeitlosen Möbeln aus Metall und Edelholz, dicken Sesseln, in denen das Sitzen inszenatorischer Vorgang ist, Tischen, an denen man ausschweifend tafelt, gigantischen Sekretären zum Residieren. Die reinste Erholung von den Rumpelkammerkulissen und perspektivlosen Pappbergen, auf die man meistens starren muß. Zur Pause hin huschen Jesus, Karl Marx und Gandhi noch schnell über die Bühne, bevor Hybris und Götzendienst wieder das Wort ergreifen. Krampfhaft versucht Caligulas Geliebte Caesonia, das Publikum zur Anbetung des Kaisers zu animieren, was gründlich in die Hose geht, weil Katrin Klein einfach nicht spielen kann. Ansonsten stimmt die Spannung auf der Bühne, bilden Kaiser und Hofstaat ein Ensemble, das sich nicht aus den Augen läßt, in strenger Szenographie Dialoge zu Disputen macht.
Die Umbauten sind bei Laufenberg Spektakel im Spektakel. Schostakowitsch und ein weißer Vorhang, auf dem zunächst der Schnee des Testbilds flimmert. Dann pulsieren wilde Linien, Knoten, Punkte wie bei einem außer Rand und Band geratenen Oszillographen. Später wird es konkret und auch ein bißchen prekär, bei den Aufnahmen toter KZ-Insassen zwischen Tanzszenen amerikanischer Musicals. Camus schrieb das Stück 1938, doch den Filmausschnitten gleich die historische Parallelschaltung von Hitler und Caligula zu unterstellen, wäre übertrieben. Denn die Projektionen sind weniger Aussagen als Assoziationen, harsche Zwischenblitze zur perversen Dialektik der sogenannten Zivilisation, glanzvolle Oberfläche neben entsetzlichster Fratze. Caligula ist diese Fratze im Bewußtsein ihrer Fratzenhaftigkeit, das Monster, das seine eigene Monstrosität durchschaut und zelebriert. Ein nihilistisches Gesamtkunstwerk, das Nietzsche nicht besser hätte erfinden können.
Am Ende schafft Laufenberg nicht nur Verständnis für die existenzphilosophische Extremposition, er macht den Zuschauer zum Komplizen. Mit einer Ahnung von der Faszination der schrankenlosen Macht und Freiheit, von der Lust der Grausamkeit. Man möchte nicht einfach brav im Sessel klatschen, sondern dem buhrufenden Nachbarn so richtig hart vors Schienbein treten. Katja Nicodemus
„Caligula“ von Camus. Regie: Uwe Eric Laufenberg, wieder am 15. und 21.11., 19.30 Uhr, Deutsches Theater, Schumannstraße 13a
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